In Deutschland wird zeitgenössischer Tanz auf hohem Niveau produziert
Deutsche Tanzplattform 2008
Mit ihrem tief berührenden Stück „Maybe forever” beschließen Meg Stuart und Philipp Gehmacher das Programm von Tanz im August
Die Glut, die tief unter der Asche weiterglimmt, ist oft die schmerzhafteste und die gefährlichste. Jeder, der schon einmal das Ende einer Liebe erlebt hat, kennt den quälenden Rausch von Erinnerungen, das hartnäckige Verweilen von Gesten und Worten, von Berührungen auf der Haut – und den wahnsinnigen irrationalen Wunsch danach, die zerstörte Vertrautheit wiederhaben zu wollen – für immer. Man will sich den anderen aus dem Körper, dem Gehirn und dem Wortschatz reißen – und doch genügt ein Lufthauch, ein Geruch, ein fernes Echo eines gemeinsam gehörten Songs, um die emotionale Achterbahnfahrt wieder in Bewegung zu setzen.
Aus den schwelenden Trümmern einer längst vergangenen Beziehung haben Meg Stuart und Philipp Gehmacher einen verzweifelten Totentanz der Erinnerung geschaffen, der zum Intensivsten und Schmerzhaftesten gehört, was derzeit auf einer Bühne zu sehen ist. „Maybe forever” lautet der programmatische Titel des Stückes, in dem sich die autistische Langsamkeit des Österreichers und die hypernervöse Körperdekonstruktion der amerikanischen Choreografin zu einem hochsensiblen Strudel des Phantomschmerzes vermengen, aus dem der Zuschauer nach 80 Minuten erschöpft und gereinigt wieder auftaucht, wie nach der Katharsis einer antiken Tragödie.
Dabei beginnt der Abend zunächst ganz unspektakulär. Auf einer dunklen Bühne sitzen Stuart und Gehmacher Schulter an Schulter, dem Publikum den Rücken zugewandt. Langsam rutschen die Körper voneinander weg, rollen über den Boden, finden wieder zusammen, verkeilen sich, und tasten blind und fahrig mit den Händen nacheinander. Immer nervöser wird das Spiel von Abstoßung und Nähe, bis die beiden einander in die Arme fallen, sich animalisch betasten, wieder auseinanderstreben, schließlich getrieben durch den Raum irren und dabei ziellos in der Luft nach einander greifen. Minutenlang dauert das wortlose Treiben, das von elektronischem Summen und Klicken untermalt wird, in das sich immer wieder der Nachhall weit entfernter Möwenschreie mischt. Schon in diesem Prolog scheinen die Rollen klar verteilt: Während Stuart zwischen der tröstenden Mutter, der launischen Spielgefährtin und der ängstlichen Geliebten changiert, bleibt Gehmacher stets das zu groß geratene männliche Problemkind, das den Kopf in den Schoß seiner Partnerin legt, sie herrisch umarmt und immer wieder in störrische Embryonalposen flüchtet.
Würde „Maybe forever” an dieser Stelle enden, ließe es sich als brillante kleine Skizze nahtlos in die Geschlechterkämpfe des deutschen Tanztheaters einordnen. Da sich die beiden Choreografen sich jedoch weniger für den ohnehin schon schwierigen Ist-Zustand einer Liebe interessieren, als für die Verheerungen, die die Erinnerung daran in den Körpern anrichtet, geht das Stück erst jetzt so richtig los.
In betont lässiger Pose betritt der belgische Songwriter Niko Hafkenscheid die Bühne. Mit seinem Bärtchen, den strähnigen Haaren und der ausgeprägten Nase wirkt er wie ein Wiedergänger des amerikanischen Regisseurs Vincent Gallo, der in seinen Filmen auf bedrückende Weise Außenseiter portraitiert, die unfähig sind, über den Verlust ihrer Liebe hinweg zu kommen. Zu minimalistischen Gitarrenklängen stimmt er eine trotzige Hymne auf die Sehnsucht nach Ewigkeit an, die die beiden gescheiterten Liebenden zurück auf das Plateau holt. Meg Stuart nimmt sich ein Mikrophon und versucht, die Erinnerungsfragmente einer zerstörten Liebe verbal zu neutralisieren. Sie erzählt von kurzen Begebenheiten und beschließt jeden ihrer kleinen Monologe mit den Worten „I take this back”. Unwillkürlich macht ihr jedoch ihr Körper einen Strich durch die Rechnung. Je länger sie spricht, desto heftiger zucken ihre Arme nach oben und zur Seite, bis sie schließlich ihren Sprachfluss abbricht und sich selbst heftig umarmend in die Mitte des Raumes taumelt.
An diesem Punkt kehrt auch Gehmacher auf die Bühne zurück, und die beiden fallen übereinander her wie zwei Junkies auf der Suche nach dem erlösenden Schuss. Inmitten des Bühnenbildes von Janina Audick, das mit seinen tristen grauen Vorhängen wirkt wie ein verlassener Ballsaal am Ende der Welt, verweben die beiden Choreografen das nervöse Bewegungsvokabular der Anfangssequenz zu einem geisterhaften Pas de Deux der unbefriedigten Seelen. Eingerahmt von Hafkenscheids Gitarrespiel und Samples, in denen so illustre Stimmen wie die des bittersüßen schwulen Songpoeten Rufus Wainwright aufscheinen, zerfallen ihre Körper in Fragmente unfreiwilliger Erinnerung. Immer wieder zeichnet sich ein Ansatz seeligen Lächelns auf den Gesichtern ab, bevor das Bewusstsein der Vergeblichkeit es wieder wegwischt. Der Zuschauer fühlt sich dabei an Bilder von innig tanzenden Alkoholikerpärchen in der Bahnhofsgaststätte erinnert, die sich noch vor wenigen Augenblicken aufs Wüsteste beschimpft haben, aber trotzdem voneinander nicht lassen können.
Höhepunkt des Abends sind zwei Solos, in denen Gehmacher und Stuart monologartig die verzweifelte Befindlichkeit ihre Figuren auf den Punkt bringen. Während der Österreicher immer wieder mit emporgereckten Armen eine Geste des freudig wiedererkennenden Grußes skizziert, die sich langsam in eine resignierte Grimasse verwandelt, scheint die Amerikanerin völlig vom unkontrollierten Greifen-Wollen ihrer Gliedmaßen aus dem Gleichgewicht gebracht. In ihrer tragischen Getriebenheit und dem regressiven Bedürfnis, das Geschehene ungeschehen zu machen, bekommen die zuckenden Gestalten eine existenzielle, fast religiöse Dimension. Mit seinen ausgestreckten Armen und seinem staunenden entrückten Gesicht wirkt Gehmacher wie ein biblischer Schmerzensmann und Stuart, die seinen Kopf zärtlich an ihre Knie drückt, wie eine zerzauste Mater dolorosa. Je länger das Stück fortschreitet, desto mehr tritt die Frage nach Liebe in den Hintergrund. In einer Welt, die immer mehr in ihre Einzelteile zerbricht, kann nur der Körperkontakt mit dem anderen noch einen kurzen Moment des Trostes schenken. Und Trost scheint auch der Ausweg aus dem existenziellen Dilemma zu sein. „I just want you to hold me tight until everything is quiet”, hallt Stuarts Stimme aus den Lautsprechern und liefert so den Schlüssel für die unerlösten Seelen aus „Maybe forever”. In den winzigen Momenten kindlicher Hingabe liegt das Glück – und nicht in dem egoistischen Wunsch nach Dauer.
Durch ihren radikalen Mut zur Emotionalität und die intime Vertrautheit auf der Bühne haben Philipp Gehmacher und Meg Stuart ein Meisterwerk geschaffen, das weit aus dem diesjährigen Programm von Tanz im August herausragt. Schön, dass zwischen der intellektuellen Coolness eines Xavier Le Roy und klug kalkuliertem Strukturalismus à la de Keersmaeker noch Platz war für ein Werk, das weit über das choreografische Tagesgeschehen unserer Zeit hinausweist.
Weitere Aufführungstermine 26.09., 07.10. und 26.10.2007 an der Volksbühne www.volksbuehne-berlin.de
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