In Deutschland wird zeitgenössischer Tanz auf hohem Niveau produziert
Deutsche Tanzplattform 2008
Dass soziale Anliegen nicht immer große Kunst produzieren, zeigt das zweite Drittel von Tanz im August
„Gute Absichten bringen schlechte Literatur hervor”, schrieb der französische Schriftsteller André Gide. Dass es sich beim zeitgenössischen Tanz ähnlich verhält, war nun bei „Tanz im August” zu besichtigen. „Look at me I'm Chinese”, das 90-Minuten-Stück, das die Berliner Choreografen Jutta Hell und Dieter Baumann mit sechs jungen chinesischen Tänzern in Shanghai erarbeitet haben, scheitert an der politischen Korrektheit seiner Schöpfer. Hell und Baumann alias Rubato, die seit 15 Jahren regelmäßig in der rasant sich verändernden Volkrepublik arbeiten, mühen sich redlich, eine Ahnung von den Widersprüchen, Konflikten und Absurditäten ihres Gastlands zu vermitteln. Heraus kommt dabei leider eine dramaturgisch dröge Aneinanderreihung von Klischees – von der militärischen Sportgymnastik bis hin zum Anpreisen nachgemachter europäischer Nobelmarken. Groß ist der Respekt der Choreografen vor ihrem Thema und ihren jungen Interpreten, doch verhindert gerade diese betuliche Behutsamkeit jede ernsthafte künstlerische Auseinandersetzung. „Look at me I'm Chinese” wagt sich weder wirklich an eine respektlose Dekonstruktion des westlichen Blicks auf eine andere Kultur, noch gibt es den betrachteten Tänzerindividuen die Möglichkeit, die an sie gestellten Erwartungen selbstermächtigt zu unterlaufen.
Spürbare Schwierigkeiten bei der Suche nach einer geeigneten Form hat auch die Australierin Simone Aughterlony. Im Rahmen eines umfangreichen Projekts über die Arbeitsbedingungen ausländischer Hausangestellter in Westeuropa hat sie aus Prozessakten einen Tanztheaterabend („Deserve”) zusammengestellt, der sein todernstes Thema durch postdramatische Kabinettstückchen verdaulicher machen möchte. So werden Monologe über Missbrauch, Folterung und Demütigungen durch emotionslosen Vortrag, Musik und Slapstick konterkariert – mit dem Erfolg, dass das brisante Sujet in die kunstreflexive Beliebigkeit abgleitet. Nur ganz am Anfang, als eine hysterische Hausfrau eine Horde choatischer Domestiken zu befehligen versucht und sich aus lauter Hilflosigkeit zur sadistischen Bestraferin entwickelt, scheint etwas von der komplexen Ambivalenz moderner Herr-Knecht-Verhältnisse auf.
Den Gegenentwurf zum Scheitern seiner sozial engagierten Kollegen liefert der Franzose Boris Charmatz. „50 years of dance”, seine Hommage an Merce Cunningham kommt so spritzig und leichtfüßig daher, das man sie zunächst nicht richtig ernstnehmen möchte. Zu Grunde liegt der Arbeit eine einzige – minimalistische – Idee: Ausgehend von einem Fotoband über das Werk des verstorbenen Meisters entsteht aus 300 chronologisch angeordneten Einzelbildern ein choreografisches Daumenkino, eine ruckelnde, liebevoll nostalgische Zeitreise von den 1950er bis ins Heute. Sechs ehemalige Interpreten von Cunninghams Company erwecken die Erinnerungsschnippsel zu neuem Leben. Die Übergänge zwischen den einzelnen Posen hat Charmatz seinen Interpreten überlassen, so dass sich in das Projekt Spuren von körperlicher Erinnerung schleichen. Man mag die Arbeit als comic-haftes Leichtgewicht abtun, das sich den Umgang mit historischen Erbe viel zu einfach macht, doch ist Charmatz' Stück unter seiner bunten Oberfläche eine sehr ernsthafte Reflexion über Zeit, Kunst und den Körper als Archiv.
Minimalistisch zeigen sich auch die neuesten Arbeiten von Olga de Soto und Meg Stuart. De Soto hat sich seit einigen Jahren der choreographischen Vergangenheitsforschung verschrieben. In ihrem Vortrag „An Introduction” beschäftigt sie sich mit dem legendären Anti-Kriegs-Stück „Am grünen Tisch” der deutschen Ausdruckstanz-Ikone Kurt Joos. Weit mehr als das Faktenmaterial berühren die gezeigten Videos: So wird eine kurze Sequenz aus den 60er-Jahren, in der die blutjunge Joos-Schülerin Pina Bausch buchstäblich mit dem Tod tanzt, zur bittersüßen Hommage an eine Künstlerin, die dem Erbe des deutschen Ausdruckstanzes zu Weltruhm verholfen hat.
Fast ebenso statisch kommt „Fault Lines” daher, das von den Choreografen Meg Stuart und Philip Gehmacher in Zusammenarbeit mit dem Videokünstler Vladimir Miller entwickelt wurde: Zwei Körper prallen aufeinander, krallen sich aneinander fest und ziehen sich schließlich in zwei unterschiedliche Ecken des Raumes zurück. Durch die Manipulation der produzierten Bilder durch Videokamera und eine Handvoll bunte Folien entsteht ein seltsam hypnotisches Spiel mit Wirklichkeitsebenen, das jedoch spekulativ bleibt – und im Grunde kaum weniger ist als hübsche Oberfläche.
Nach diesem eher ernüchternden Eindruck vom Schaffen der etablierten Choreographen machte der Blick auf die Abschlussarbeiten der Brüsseler Choreografenschmiede P.A.R.T.S neuen Mut: Von der entrückten tänzerischen Selbstreflexion des Südafrikaners Nicholas Aphane bis hin zur raffiniert verrätselten Sportgymnastik des US-Amerikaners Daniel Linehan, zeigte sich eine bunte Bandbreite an Ansätzen und Formen. Man muss sich also zumindest um die Zukunft des zeitgenössischen Tanzes wenig Sorgen machen.
www.tanzimaugust.de
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