An der Schwelle zum Paradies

„Myth“, das neue Stück von Sidi Larbi Cherkaoui

Ludwigsburg, 16/07/2007

Vor so viel Fantasie muss einem Angst werden: zwei Stunden breitet Sidi Larbi Cherkaoui einen Rausch aus grotesken, absurden, poetischen Bildern, ein Theaterkunstwerk aus Tanz, Gesang, Artistik und Drama. Vor knapp einem Monat feierte „Myth“, das neueste Werk des belgisch-multinationalen Choreografenwunders, als Produktion des Künstlerhauses Toneelhuis in Antwerpen Premiere, jetzt feierte das Spektakel Deutschlandpremiere und beschloss die hochkarätige Tanzreihe der Ludwigsburger Schlossfestspiele.

„Die göttliche Komödie“ (denn auch Dante gehört zu den Inspiratoren dieses belesenen Tanztheaters) spielt in einem Warteraum, vielleicht vor der Hölle, vielleicht vor dem Himmel. Ein Skelett sitzt herum, das Wissen der Welt fällt in Lexikonbänden aus hohen Bücherregalen, die zwei riesigen Flügeltüren zum nächsten Raum bleiben fest geschlossen. Im ersten Stock spielt und singt das italienische Ensemble Micrologus mittelalterliche Musik, mit schönen Solos für Laute, Harfe, Flöte oder einen Dudelsack. Unten vertreiben sich fünf scheinbar willkürlich zusammengewürfelte, seltsame Menschen missmutig die Zeit: ein junges Paar mit Down-Syndrom, eine spindeldürre, zickige Rothaarige, ein üppiges Mannweib und ein schlaksiger Schwarzer in verdächtig bunten Anzügen.

Plötzlich kriechen aus den Ecken und Regalen schwarze Gestalten, gleiten an den Wänden entlang, baumeln wie Fledermäuse von der Decke. Gewandt wie Zirkusclowns entkommen diese Schatten den Zugriffsversuchen der Menschen, sie ärgern oder trösten sie, nur um von munteren Schoßtieren zu Vampiren, Chimären, Höllenhunden zu mutieren. Unversehens kippt das zunächst verspielte, witzige Stück in dunkle Bilder, die sofort wieder ironisch gebrochen werden. Das Solo einer dieser schwarzen Gestalten gehört sicher zum Wunderlichsten, was wir seit langem auf einer Tanzbühne gesehen haben: knochenlos kugelt sie über den Boden, wird zum Gummiball, zur Vampirin, zu einem unwirklichen Fantasiewesen, ihre lange Haare schlagen wie Tentakeln um sie und sie entwirrt sie mit den Füßen.

Cherkaoui verwandelt Zirkusartistik, Kung-Fu oder Comedy zu einem Tanz von dunkler Poesie, mischt nahtlos ethnische Tänze und Hip-Hop hinein. Da steppt der schwarze Musicalfan nach allen Regeln des Broadway zu mittelalterlicher Musik, parallel dazu schuhplatteln seine zwei Schatten. Die wunderbaren Musiker und Sänger gehen die Wände hoch und mischen sich unter die Schatten, ein Kung-Fu-Kämpfer singt mittelalterliche Hymnen, schwarz wird zu weiß und Geister zu lebendigen Menschen - alles verwandelt sich hier, niemand ist sicher. Die Wartenden und ihre Schatten beschimpfen sich gegenseitig, sie wechseln mit den Kleidern die Identität, halten Monologe über Gnostik und Mystizismus, treten im Hochzeitsornat oder als Domina mit Mensch an der Leine auf. Es geht um Selbstverwirklichung, Selbstbespiegelung, Selbstanklage, um die Suche nach Heimat in diesem Wartesaal zwischen Sartreschem Existenzialismus und Beckettscher Absurdität. Verpackt in eine groteske Traum-Ästhetik der Außenseiter und Freaks zeigt Cherkaoui weniger die titelgebenden Mythen der Weltkulturen als deren Archetypen und Nachtmahre.

Ganz zum Schluss öffnen sich plötzlich die Flügeltüren und an zwei langen Stäben schwankt eine Christusfigur in Jeans herein, fast alle anderen flüchten hinaus an den Ort, vor dem sie so lange gewartet haben. Angesichts des kaputten Erlösers mag es ein zweifelhaftes Ziel sein, rein künstlerisch waren wir zwei Stunden an der Schwelle zum Paradies. Keine weitere Aufführung in Ludwigsburg, die Produktion gastiert ab 24. Juli bei ImPuls Tanz in Wien und im Februar 2008 in Ludwigshafen.
 

Links: www.schlossfestspiele.de 
“Myth“ bei 
ImPulsTanz / „Myth“ in Ludwigshafen

 

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