An der Schwelle zum Paradies
„Myth“, das neue Stück von Sidi Larbi Cherkaoui
Cedar Lake Contemporary Ballet mit „Orbo Novo“ von Sidi Larbi Cherkaoui zu Gast in Ludwigsburg
Wie benommen von der Eindrücklichkeit der Bilder, die der belgisch-marokkanische Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui mit dem Cedar Lake Contemporary Ballet aus New York auf die Bühne des Ludwigsburger Forums zaubert, wankt das Publikum nach anderthalb Stunden aus dem Saal. Inspiriert vom Bestseller „My stroke of Insight“ begibt sich Cherkaoui in „Orbo Novo“ auf die Suche nach der perfekte Balance, wie er sagt: „Zwischen links und rechts, zwischen Himmel und Erde. ‚Orbo Novo‛ ist die Erforschung des Augenblicks, des Jetzt, und zugleich der Versuch, die Zukunft von der Vergangenheit zu entwirren. Ich sehe nicht so sehr die Möglichkeit zu hoffen, als das Hoffen auf Möglichkeiten“, so der Choreograf.
Neue Bewegungsmöglichkeiten bietet Cherkaoui den 15 Tänzern durch das Set: meterhohe Paravents in Gittermuster, steil wie Kletterwände ein Tummelplatz, um nach Affenart hinauf und hinunter zu kraxeln, sich kopfüber hängen zu lassen, sich wie Tarzan von Verstrebung zu Verstrebung zu schwingen. Oder, geschmeidig wie eine Schlange, sich durch die engen Öffnungen winden und gleiten. Bewahrender Schutzzaun oder trennende Mauer? Gefangene oder Besucher? Raster, präzise wie vergrößertes Millimeterpapier, in dem man hängen bleibt wie ein Fisch im Netz oder durchrutscht wie geschmiert.
Zum Soundtrack von Szymon Brzóskas erkunden die Akteure jenseits der akademischen Technik die Durchlässigkeit der Gitterkonstruktionen. Eine Versuchsanordnung, die dank Licht und fahrbarer Wandelementen immer wieder neue ästhetische Reize liefert. Cherkaoui gewissermaßen ein Master of Ceremony, gießt die Moves der Tänzer in schön anzuschauende Metaphern, deren Deutungsvielfalt auf Dauer ermüdet. Das beginnt schon mit dem Titel Neue Welt, soll er sich, wie die Kostüme andeuten, auf die Pionierzeit beziehen oder geht es um die neue Sicht der Welt, die sich ein Schlaganfall-Patient aneignen muss? Oder beides? Und wenn ja, warum? Was hat die Metaphorik mit dem literarischen Stoff der Hirnforscherin zu tun? Wäre nicht eine lange Textsequenz, in der die Tänzer, chorisch sprechend, durch Gänge und Gesten aufgelockert, Zitate des Buches (in dem Jill Bolte Taylor die Geschichte ihres eigenen Schlaganfalls schildert), wiedergeben, würde man wohl kaum auf die Idee kommen, dass es sich um ebendiese, von der Autorin sehr pfiffig erzählte, authentische Story handelt.
Amerika sieht sich gern als kulturelle Avantgarde und treibende Kraft der Moderne. Umso erstaunlicher, dass eine privatfinanzierte Tanzkompanie in New York auf Choreografien made in Europe setzt. 2003 von Nancy Laurie gegründet, wird das Cedar Lake Contemporary Ballet von zwei Franzosen geleitet: Der künstlerische Leiter und Hauschoreograf, der in Paris geborene Benoit-Swan Pouffer, und seine ebenfalls aus Frankreich stammende Ballettmeisterin Alexandra Damiani, haben ein Ensemble hochqualifizierter Tänzer-Persönlichkeiten zusammengestellt. Es macht Spaß, der Experimentlust dieser durchtrainierten Bewegungstiere zuzuschauen, als Gruppe, in Paaren wie auch den vielen solistischen Auftritten.
Nach einer Reihe namhafter europäischer Choreografen (Ohad Naharin, Crystal Pite, Didy Feldman, Regina van Berkel) hat Sidi Larbi Cherkaoui seine Visitenkarte abgegeben. Für die Kompanie ist es das erste abendfüllende Ballett, für die Tänzer das erstemal, dass sie ihre Stimme einsetzen und − wie eine Tänzerin im Nachgespräch verrät „Wurde noch nie so viel am Boden gearbeitet. Ohne Yoga hätte ich die Produktion kaum durchgehalten“. Europa − eine kulturelle Herausforderung für Amerika. Ganz neu ist das nicht. Schön, dass sie vom zeitgenössischen Ballett angenommen wird.
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