Crankos Erbe
Das Stuttgarter Ballett trauert um Dieter Graefe
Sie ist genau das, was Stuttgart fehlt: eine junge, gerade aufblühende dramatische Ballerina. Nachdem das Berliner Staatsballett ständig Friedemann Vogel ausleiht, war gestern Abend endlich seine dortige Partnerin Polina Semionova zu Gast in Stuttgart, als Stargast der Gala zum 40. Geburtstag des Werks. Am 27. Oktober 1967 hatte hier die zweite, heutige Fassung von Crankos schönstem Handlungsballett Premiere gehabt, damals getanzt von Marcia Haydée und Heinz Clauss. Mit 23 Jahren ist Semionova wesentlich jünger als Haydée damals war, und doch erinnert sie, obwohl ein völlig anderer Ballerinentyp, in manchem an die Kunst von Crankos legendärer Muse. Was wird erst aus der jungen Russin werden, wenn sie Rolle einige Jahre lang tanzt und sie für sich weiterentwickelt ...
Bei aller Authentizität der Darstellung bewahrt Semionovas Tanz eine Feinheit und Würde, man möchte fast sagen eine Entrücktheit, die Tatjana als eine ganz besondere Persönlichkeit aus ihrer Familie und der Gesellschaft herausheben, ihr einen ganz eigenen Charakter geben. Nicht ein einziges Mal, auch nicht in Tatjanas Solo im zweiten Akt, übertreibt sie eine Arabesque oder ein Developpé, um uns zu zeigen, was sie kann; ihre formidable Technik verschwindet völlig hinter der Rolle. Wie schön, ihren sprechenden Armen zuzuschauen, den weichen Ellenbogen und den zerbrechlichen Handgelenken. Ausgerechnet der Gast aus Berlin bringt wieder eine Ahnung von Marcias Armen nach Stuttgart, wo die Kunst schöner Port de bras scheinbar nicht mehr gelehrt wird. Eine Stelle kurz vor dem Duell, als Tatjana und Olga parallel tanzen, war verräterisch - Katja Wünsche „vergaß“ einfach ihre Hände, klappte sie in die übliche Position, während man bei Semionova jede Emotion bis in die Fingerspitzen hinauszittern sah.
Vieles erinnert an Marcia Haydée, zum Beispiel der Blick, den Tatjana Onegin zuwirft, nachdem er Lenski erschossen hat - nicht strafend das Kinn vorgereckt und die Stirne hoch, wie es heute leider oft üblich ist, sondern schmerzlich, fast mitleidig den Verlust seines (und ihres) weiteren Lebens betrauernd. Ihr feines Lächeln im Gremin-Pas-de-deux erzählt von Ruhe und Geborgenheit und ist doch ein trauriger Abglanz des strahlenden jungen Mädchens aus dem ersten Akt. Im Schluss-Pas-de-deux flammt die verträumte Liebe des ersten Aktes zu einer tiefen, verzweifelten Leidenschaft auf. Wie wird sie diese Schlussszene erst in zehn oder fünfzehn Jahren tanzen, mit der Erfahrung eines Tänzerlebens hinter sich?
Auch der große, elegante Jiří Jelinek dürfte heute einer der besten Interpreten dieses Cranko-Balletts sein, der vom Danseur Noble des ersten Akts über den guten Partner (ein paar weitere Vorstellungen werden dem Paar die letzte Sicherheit geben) bis zu den triumphierend hohen Sprüngen des „erträumten“ Onegin im Spiegel-Pas-de-deux alles mitbringt, was die schwierige Rolle erfordert. Er ringt nicht mit der Figur, wie es so viele gute Tänzer von Kobborg über Tewsley bis Legris taten, sondern er zeigt ihr Ringen mit sich selbst, einen zweideutigen, changierenden, verlorenen Charakter. Er schaut Tatjana im ersten Akt gerade lange genug an, dass ein Bild von ihr bei ihm hängenbleibt, er zeigt Onegins Affront gegen Lenski im zweiten Akt nicht als berechnende Provokation, sondern lässt ihn als irrationales Handeln aus seinen Gefühlen gegenüber Tatjana entstehen, deshalb glaubt man ihm auch die Liebe zu Tatjana am Schluss. Schön sind auch die Szenen vor dem Vorhang, weil Jelinek nachdenklich, fast zögernd schreitet; dennoch übertreibt auch er den Zusammenbruch am Ende des zweiten Aktes.
Umrahmt wurde die Aufführung von einem exzellenten, bis in die fein nuancierten Nebenrollen bestens einstudierten Corps de ballet, von einem wunderbar zuverlässig partnernden Nikolay Godunov als Gremin und einem mit Katja Wünsche (Olga) und Evan McKie (Lenski) brav, aber nicht besonders lyrisch besetzten zweiten Paar. Polina Semionova verbeugte sich am Ende mit deutlichem Respekt vor dem Haus und seiner großen Ballettgeschichte. Stuttgart lag ihr zu Füßen. Wie mutig von Reid Anderson, uns aus dem derzeit ziemlich grauen Stuttgarter Alltag einen Blick in diesen Balletthimmel werfen zu lassen.
Link: www.stuttgart-ballet.de
Polina Semionova tanzt heute Abend die Tatjana bei der „Onegin“-Wiederaufnahme in Berlin, Link: www.staatsballett-berlin.de
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