Das Schicksal mit dem Rasiermesser
Roland Petit im Pariser Palais Garnier
Es ist immer ein spannender Moment, wenn die Direktion der Pariser Oper tiefer als sonst in die Schatztruhe ihres Repertoires greift und ein Ballett hervorholt, das nur selten auf der Bühne zu sehen ist. Einen solchen Griff hat sie mit Roland Petits „Proust ou les intermittences du cœur“ getan, das nach seiner Uraufführung in Marseille im Jahr 1974 zuletzt anlässlich seiner Erstaufführung 1988 auf dem Spielplan der Pariser Oper stand. Petit inspiriert sich an Prousts Hauptwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, doch geht er wie häufig sehr frei mit der Vorlage um. Sein hundertminütiges Stück versucht nicht, den Inhalt von mehreren tausend Seiten subtiler und stilistisch ausgefeilter Prosa in Bewegung zu übersetzen, sondern konzentriert sich auf einige Motive und Momente des Werkes, die nach Meinung des Choreographen im Zentrum des Proustschen Universums stehen oder ihm für eine tänzerische Darstellung besonders geeignet erscheinen.
Kenner Petits wird es dabei wenig überraschen, dass dessen Version vor allem um Leidenschaft in allen ihren Ausdrucksformen kreist. Erwiderte und verzweifelte Liebe, Liebe zwischen jungen Mädchen, Liebe zwischen jungen Männern, Liebe zu Kokotten, Liebe eines alternden Aristokraten zu einem käuflichen jungen Violinisten – diese Themen sind es, die den Choreographen, einen Meister der Variationen und Pas de Deux, besonders interessieren. Andere Proust wichtige, aber schwerer zu visualisierende Motive – vor allem die Entwicklung eines jungen Künstlers, der anfangs nicht zu schreiben vermag, sowie die im Roman sehr dominante Analyse der Gesellschaft – treten in den Hintergrund und mit ihnen das Corps de Ballet, das hauptsächlich eine dekorative Funktion einnimmt.
Der kritisch beobachtende Erzähler des Romans, hier ganz einfach mit dem Schriftsteller Proust gleichgesetzt, wird zu einer der vielen Figuren, die im Laufe des Balletts kommen und gehen. So folgen die 13 Bilder des Ballettes keiner narrativen Logik, sondern zeigen in zwei Akten zuerst „Einige Bilder aus Prousts Paradiesen“ und dann „Einige Bilder aus Prousts Höllen“. Zur Begleitung wählte Petit hauptsächlich Musik von Prousts Lieblingskomponisten – Beethoven, Debussy, Fauré, César Franck, Reynaldo Hahn, Saint-Saëns und Wagner –, die sehr überzeugend vom Orchester der Pariser Oper unter der Leitung Koen Kessels interpretiert wurde.
In seinen Porträts der Wirrungen der Leidenschaft zeigt sich Roland Petit wie häufig als souveräner Meister des erotischen Pas de Deux. Vom koketten Blickkontakt Albertines mit einem interessierten Spaziergänger zur offen sexuellen Begegnung Unbekannter im nächtlichen Dunkel schafft Petit ein Alphabet der zwischenmenschlichen Beziehungen, dem es nicht an choreographischer Originalität fehlt. Der erste Akt zeigt lichtdurchwirkte Momente erwiderter Liebe oder der Lust am Dasein, wie beispielsweise den Spaziergang der exquisiten Mathilde Froustey als sorglos-leichtfüßiger Gilberte oder das – nicht ganz unschuldige – Spiel der jungen Mädchen am Strand. Swanns Liebe zu seiner treulosen künftigen Ehefrau wird kurz angedeutet (mit Christelle Granier als verführerischer Odette und Bruno Bouché als rührendem, fast etwas zu idealistischem Swann), und schließlich endet der Akt mit dem beeindruckenden Pas de Deux zwischen Manuel Legris und Isabelle Ciaravola als Proust und Albertine. Beide sind exzellent in dem fließenden, lyrischen Pas de Deux, der die Unerreichbarkeit der Geliebten und die innere Zerrissenheit des Erzählers darstellt: die grazile, langbeinige Ciaravola entrinnt dem hingebungsvollen, dramatisch intensiven Legris selbst in den Momenten größter Nähe.
Der dunklere zweite Akt zeigt Liebe, die durch soziale Tabus oder andere Schranken verhindert wird. Im Zentrum des Aktes stehen Simone Valastros nervöser Monsieur de Charlus sowie Stéphane Bullions glamouröser Violinist Morel, dem Charlus in vergeblicher erotischer Faszination verfallen ist. Leider überschreitet Charlus dabei mehr als einmal die Grenze zur Lächerlichkeit, was sich kaum durch Prousts Porträt dieses unnahbaren, arroganten Charakters rechtfertigen lässt. Auch das Bild, in dem Charlus (auf eigenen Wunsch?) von vier Arbeitern misshandelt wird, bleibt kryptisch, da es nur wenig mit der Szene des Romans gemein hat, von der es sich laut Programm inspiriert.
Wie im ersten Akt liegt Petits Stärke vor allem im letzten Pas de Deux, der unter dem Titel „Kampf der Engel“ die Verführung des reinen, aufrechten Marquis de Saint-Loup durch den diabolischen Morel zeigt. Zur melancholischen Musik von Gabriel Faurés Requiem führt Mathieu Ganio als verzweifelter Saint-Loup den aussichtslosen Kampf gegen sein dunkles alter ego, der mit seiner Niederlage und seinem Tod an der Front endet.
Am Ende schließt sich der Kreis des Balletts durch einen Epilog, der die in der Anfangsszene eingeführte, antiaristokratische und exaltiert kunstliebende Madame Verdurin in ihrem durch Heirat erworbenen neuen Status als Duchesse de Guermantes zeigt. Ein geisterhafter Totentanz der marionettenähnlichen feinen Gesellschaft zeichnet ein Bild des Verfalls, doch wird gleichzeitig ein Neuanfang angedeutet: nach dem Versiegen der tänzerischen Flut setzt endlich der bis dahin reglos auf einem Stuhl beobachtende Proust zur Niederschrift des Werkes an, das diese Gesellschaft und die von Petit dargestellten Liebespaare unsterblich gemacht hat.
Palais Garnier: Besuchte Vorstellung: 24.03.07
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