Auftakt zum VII. International Ballet Festival MARIINSKY mit „The Russian Project“

Glanzvoll nicht nur dank „Floras Erwachen“

St. Petersburg, 15/04/2007

Das diesjährige Festival, Höhepunkt der St. Petersburger Ballettsaison, präsentierte an seinen beiden ersten Abenden vier russische Ballette aus drei Jahrhunderten: „Apollo“, das erste, vereint den großen Komponisten Igor Stravinsky mit George Balanchine, dem Repräsentanten der St. Petersburger Schule, der das „Russische Ballett“ in Amerika heimisch machte. Als Mittelstücke wurden zwei neue Ballette des jungen St. Petersburger Choreografen Alexei Miroshnichenko gezeigt, am ersten Abend „Wie der alte Leierkastenmann“ zu „Zwei Russische Lieder zu Versen von R. M. Rilke“ für Stimme und Klavier (1979) und zu der titelgebenden Komposition für Violine und Klavier (1997), beide von dem St. Petersburger Leonid Desnyatnikov. Am zweiten Abend „Der Ring“ zu einer Auftragskomposition an 2H Company, die als St. Petersburger Culture-Club-Ikonen ihren Hip-Hop für das Mariinsky Theater mit einer elektronischen Soundcollage kombinierten. Mit höchster Erwartung aber sah man der Rekonstruktion von Marius Petipas und Lew Ivanovs Choreografie „Das Erwachen der Flora“ aus dem Jahr 1894 entgegen, als ein Franzose und der italienische Komponist Riccardo Drigo das zaristische Ballett um ein anakreontisches Werk bereicherten. All dies soll die Beiträge russischer Kultur zur Kunst der Welt sowie deren Wirkung auf jene ins Bewusstsein rücken. Zum Konzept des weiteren Festivalverlaufs siehe die Folgeabende.

Es begann also mit Balanchines „Apollo“, zum ersten Mal mit Igor Kolb in der Titelrolle, der kürzlich beim Gastspiel in München an der Seite Ulyana Lopatkinas den Albrecht in „Giselle“ tanzte. Kolb, den ich auf meiner österlichen Ballettreise am 5. April auch als Gast bei einer Gala im Opernhaus von Kiev sah, ist seit 1998 Erster Solist am Mariinsky Theater und mittlerweile ein vielseitiger, erfahrener Tänzer auf dem Höhepunkt seiner darstellerischen Mittel. Jetzt tanzte er einen dezent-expressiven Apollo, musikalisch klar akzentuiert, zwar ohne letzte Brillanz in seinen Sprüngen und Schwüngen, doch immer dank textualer Transparenz die Spannung haltend, indem er sich überrascht zum Spiel mit den klassisch-anmutigen Musen animieren ließ und gleichzeitig die Dominanz über sie behauptete. Victoria Tereshkina, die in München als Myrtha so stark beeindruckte, überzeugte als Terpsichore mit der erwarteten Virtuosität, ebenso wie Tatjana Tkachenko und Sofia Gumerova, die als Polyhymnia und Kalliope absolut synchron und brillant den Lichtgott neckisch umflirteten. Doch alle drei konnten nicht vermeiden, dass man einige Balanchine-Spezifika wie das Shiften des Beckens als einen für die St. Petersburger Tänzerinnen befremdlichen Akzent wahrnahm. Auch im Pas de deux Apollos und Terpsichores ertanzten Kolb und Tereshkina schöne Figuren, ohne jedoch deren Reiz vollständig zu erschließen. Insgesamt wirkte diese Ausführung noch etwas zu statisch und nicht ganz stimmig, doch zu Igor Stravinskys „Apollon musagete“, vom Mariinsky-Orchester unter Mikhail Agrest mit intensiver Klangfärbung gespielt, ist diese Choreografie immer wieder der Erinnerung wert.

In „Wie der alte Leiermann“ nahmen der Pianist Alexei Goribol, der Violinist Vladislav Pesin und der Tenor Boris Stepanov ihre Plätze links im Bühnendunkel ein, dann querte Daria Pavlenko in einfachem grauem Kleid von links die Bühne und zog beim Rückweg zu einem Drittel den schwarzen Hintergrund-Vorhang auf, sodass im Bühnenbild von Sergei Grachyov das Gemälde einer deutschen Altstadt sichtbar wurde und sich von rechts Licht auf die Bühnenfläche legte. Daria Pavlenko, eine der führenden Künstlerinnen des Mariinsky Balletts, atmete gleichsam die poetischen Worte und entfaltete in den auf die erste Strophe folgenden Klavierläufen vollends die Lyrik des Spitzentanzes. Dann kam Anton Pimonov als Partner hinzu, und beide waren im Gegenüber und im Miteinander wie telekinetisch verbunden. Im anschließenden Solo zum Duett von Violine und Klavier akzentuierte er moderne Bewegungen hart mit klassischen Positionen, und die Choreografie entwickelte aus ihrer neoromantischen Anlage durch die Klarheit ihrer Formalisierung konkret eine subtile Feinfühligkeit, die sich im musikalischen Crescendo der Dissonanzen zu einem spannenden Bewegungsexperiment auswuchs, einer Recherche auch des Fallenlassens, der Isolation und der Reduktion auf das nur mit einem Arm gezeigte Nachempfinden der Musik, in der großen Linie am Ende zurückgeführt zum Anfang und Neubeginn. Eine Diagonale Pavlenkos aus einfachen Schritten, die in fünften Positionen enden, und aus expressionistischen Biegungen ihres Körpers endet in der Annäherung von Mann und Frau, ehe sie hinten den Vorhang zuzieht und dadurch das Licht von rechts weggenommen wird.

Uneitler und besser kann man klassische Musik der Gegenwart nicht tanzen. Diese Produktion ist großartig in Erfindung und Ausführung – und ein Modellbeispiel dafür, wie sich die Metiers von abstraktem Tanz und Neuer Musik für den Betrachter gegenseitig erschließen. Ein schlüssiges Kunstwerk, dezent, immer am Puls der Musik wie am Zentrum der Bewegungen, die sich alle aus der Körpermitte und um sie herum entwickeln. Forsythe lässt in einigen Momenten grüßen, ja, man könnte über Miroshnichenko sagen: Er arbeitete hier wie ein melodischer Forsythe, der von der sezierenden Wissenschaft zur verbindenden Kraft der Kunst gefunden hat.

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