Die Gala!
Ursula Kaufmanns Fotoblog zur Gala des Deutschen Tanzpreises 2024
Ästhetisches Gesamtkonzept aus Ton und Tanz
Ein roter Vorhang hängt über die ganze Bühnenbreite der Lindenoper tief in den Orchestergraben hinein, als würden Bäche aus Blut dicht bei dicht in den Schoß der Erde sickern. Als die Stofflache abstürzt, rollen auf einen Dauerton zu einem Über-Leib verkeilte Körper von weit hinten auf Linie vor, verklammern sich zum Kreis, lösen sich in Einzelwesen. Einige verharren im Nackenstand. In dieser Welt lebend erstarrter Skulpturen irren zum leisen Surren riesiger Windgebläse nervös zwei Gestalten umher, eine Frau und, in weitem Rock, ein Mann, bis die Gruppe sie schluckt. Mit stumm geweitetem Mund hängt ein Mann wie tot über die Schultern seiner Träger, einem anderen scheinen Goldblättchen aus dem Schlund zu quellen. Hoch über der leeren Szene, Grau und Schwarz wie die Kostüme der Akteure, scheint die Projektion eines Frieses auf, dessen tonige, innig verschachtelte Figuren sich alsbald extrem langsam bewegen und verschieben. Erst in diesem Moment taucht aus unsichtbaren Fernen die Sängerin der Medea auf: betrachtend das Gewühl aus Kampf und Sturz. Als der Fries erlischt, schlägt ihre Stunde.
So beginnt Pascal Dusapins bereits 1992 in Brüssel uraufgeführte, seither vielmals inszenierte Oper „Medeamaterial“, wie Sasha Waltz sie sieht, erst vor wenigen Monaten für Luxemburg entworfen hat und nun an der Berliner Staatsoper vorstellt. „Medea“ heißt sie nur noch, konzentriert alle Aufmerksamkeit auf das Schicksal einer Frau, um die sich eine der bedeutendsten Mythen der Weltgeschichte rankt, immer wieder anders ausgeschmückt, ohne die zeitlose Aussage zu verlieren: eine Frau, die aus Liebe alles wagt und alles verliert, weil sie ins Getriebe machtpolitischen Kalküls gerät. Heiner Müllers Text „Medeamaterial“, Aufschrei einer gemarterten Seele, liegt der Oper zu Grunde, die zum 75 Minuten währenden Monolog, zur Abrechnung der Gattin mit ihrem Mann wird. Jason, der sie verstößt und sich mit Kreons Tochter Glauke vermählt, erscheint nur noch als körperlose Stimme vom Band, als Phantom eines verflossenen Glücks. „Wo ist mein Mann“, fragt die Kolcherin am Anfang; „Amme kennst du diesen Mann“ sind ihre letzten, schon von Wahnsinn gezeichneten Worte.
Zwischen beiden Fragen rekapituliert sie wie in einer gerafften Reportage die Stationen ihrer Schmach. Gestützt wird sie dabei durch die 17 Tänzer, unter ihnen zwei Kinder, von Sasha Waltz & Guests, die 18 als Chor kommentierenden, teils mitagierenden Sänger des Vocalconsort Berlin und die auf historischen Instrumenten spielenden Mitglieder der Akademie für Alte Musik Berlin. Caroline Stein als Titelgestalt hat sich häufig in den Oberlagen ihres Koloratursoprans zu bewegen, als schrille ihr Gesang vor Schmerz. Dann wieder spricht sie fast tonlos, als wenn das Leid sie verstummen ließe. Dass sich der Tanz und die Musik mit ihren häufig wie gelähmt schwebenden Passagen achtungsvoll einander nähern und so trefflich ergänzen, macht den Gewinn des Abends aus. Nirgends bebildert der Tanz lediglich, was in Text oder Ton bereits vorgegeben ist. Vielmehr sucht er die eigene Annäherung an den Mythos, drückt der Inszenierung ihren unverwechselbaren Stempel auf.
Immer wieder arbeitet Sasha Waltz mit chorischen Gliederungen, die sich in kleinere Gruppen auflösen, Stimmungen erzeugen, Aussagen ins Sinnbildhafte rücken. Als die verzweifelte Medea nur noch sterben möchte, scheinen ihr die Hände der Tänzer den Todesstrick zu winden, heben sie, schleppen sie an den Falten ihres Kleids. Kopfüber Getragene stehen für das Unrecht, das sie ihrem Volk um der Liebe willen zu Jason zugemutet hat; Schlagposen bereiten auf den Mord an ihren Kindern vor; Hände überm Kopf stehen für Ausweglosigkeit.
Gelehnt ans Portal, fast schon entrückt, erlebt Medea den Tod der Konkurrentin. Aus den Halsketten, die sie ihr zur Hochzeit schickt, dringt Gift in Glaukes Körper, rötet das Brautkleid, besudelt auch Jason. Nur hier und im Tod der beiden Kinder durch Mutterkuss schlüpfen Tänzer in konkrete Rollen. Ansonsten sind es gerade die ins Allgemeine gerückten Bilder von Strenge und Kargheit, mit fahrigen, mechanisch wiederholten, immer symbolhaften Bewegungen, die der Oper des derzeit bedeutendsten französischen Tonsetzers visuelle Gestalt und Struktur geben. Wie vom Wind getrieben fliegen Medeas Kinder zum Summen der Propeller auf den Händen der Tänzer der Mutter entgegen. Zwischen drei Toten muss die gezauste Medea am Ende ihren Weg suchen, zum Getöse der Ventilatoren, die alles Leben um sie weggeweht haben. Lügner, Verräter, Schauspieler schimpft sie im Wahn ihre toten Söhne, ehe sie auf dem Gang in die Ferne den Kopf blicklos zurück wendet.
Wieder 18., 20., 22., 23.9., Staatsoper Unter den Linden,
Kartentelefon 20 35 45 55, Infos unter www.staatsoper-berlin.de
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