Tanzen, was man nicht sagen kann

Zum Abschluss der Hamburger Ballett-Residenz: John Neumeiers „Die Möwe“

oe
Baden-Baden, 13/10/2007

Nach der tumultuarischen Mahler-Siebten und der spektakulären Preisverleihungs-Gala nun also zum Abschluss der zehntätigen herbstlichen Hamburger Ballett-Residenz an der Oos „Die Möwe“, John Neumeier auf den Spuren Anton Tschechows, sein vielleicht subtilstes und stillstes Ballett, das doch sein eloquentesten ist, was die Gefühle anbelangt. Und damit der äußerste Gegensatz zu Boris Eifmans kürzlich in Ludwigsburg präsentierter virtuoser Glamour-und Glitzer-Show.

Bei Neumeier ist alles nach innen gewendet, müde Frustration, ein Lächeln unter Tränen, eine melancholische Komödie. Tschechow konstatiert: „Wenn Menschen miteinander reden, liegt die Wahrheit nicht in dem, was sie sagen, sondern in dem, was sie nicht sagen.“ Und das ist genau der Ansatzpunkt für den Tanz. Tschechow-Neumeiers Menschen tanzen, was sie nicht sagen. Welch ein Kosmos der Gefühle! Welch eine Welt der unterschiedlichsten menschlichen Befindlichkeiten! Die ausgewählten musikalischen Stücke von Schostakowitsch, Tschaikowsky, Skrjabin und der Schlagzeugerin Evelyn Glennie sind wie die Stimmgabeln, die ihre Gefühle zum Klingen, zum Tanzen bringen. Welch eine Spannweite zwischen den versponnenen traumtänzerischen Monologen, den bald zärtlichen, bald wütenden, eifersüchtigen, abweisenden, hingebungsvollen Duos, den futuristischen Utopien, den revuehaften Eskapaden.

Indem Neumeier den Stoff Tschechows aus der Welt des Schauspieltheaters und der Literatur auf die Ebene des Tanzes und des Balletts verlagert, verschafft er sich die Möglichkeit, zwischen der nostalgischen Beschwörung des zaristischen Petipa-Klassizismus und den Maschinentänzen Nikolai Foreggers zu voltigieren und obendrein einen Abstecher in den kabarettistischen Amüsierbetrieb der Moskauer Roaring Twenties zu unternehmen. So spiegelt sich in seiner „Möwe“ die kulturpolitische Szene Russlands im Umbruch zwischen müde gewordener provinzieller Dekadenz und ahnungsbangem Heraufdämmern eines neuen Zeitalters, bevölkert von Charakteren, die alle in ihren individuellen Eigenschaften ausgesprochen liebevoll profiliert sind. Hier erweist sich Neumeier als ein fabulöser Persönlichkeitsporträtist, der die zwölf Hauptrollen mit den Mitgliedern seiner Kompanie sogar doppelt besetzen kann und dazu noch genügend Tänzer für die solistischen Aufgaben in den diversen Divertissements zur Verfügung hat.

Welch eine Kompanie ist da in den über dreißig Jahren seiner Hamburger Direktion herangewachsen! Und so weiß man nicht, wen man in der Vorstellung dieses Samstagabends mehr bewundern soll, die so überschwänglich jugendliche Silvia Azzoni als Nina, die titelgebende „Möwe“ in ihrem Freiheitsbedürfnis, den traumtänzerischen Alexandre Riabko, der die Welt des Balletts revolutionieren möchte, den elegant-verführerischen Dario Franconi als Trigorin, Choreograf der alten Schule, Laura Cazzaniga als in die Jahre gekommene Primballerina Arkadina, den wunderbar väterlich-onkelhafte Güte ausstrahlenden Lloyd Riggins als Sorin, die verhärmt frustrierte Carolina Agüero als Mascha, den liebevoll um sie werbenden Edvin Revazov als Lehrer Medwedenko, den smarten Amilcar Moret Gonzalez als Dr. Dorn ... So müsste man von Rechts wegen die ganze Liste der beteiligten Tänzer, und gerade auch die fantastischen Ausführenden Dream Dancer in ihren extravaganten (von Neumeier entworfenen) Kostümen à la Alexandra Exter sowie Georgina Broadhurst und Peter Dingle als aufgetakelte Étoiles in der hinreißenden Revue-Einlage anführen. Man kann sich vorstellen, mit welch einer Wonne die russischen Tänzer sich in diese Rollen gestürzt haben, als Neumeier kürzlich seine „Čajka“ am Moskauer Stanislawsky und Nemirowitsch-Dantschenko Theater einstudiert hat.

 

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