Ballet is Woman

Seltenes bei der Gala des Mariinsky-Balletts

Baden-Baden, 31/12/2008

Welche vier weltberühmten Ballerinen würde Mr. Benjamin Lumley wohl heute zu seinem Pas de quatre versammeln? Der Direktor von Her Majesty’s Theatre in London zeichnete 1845 für das Tanzereignis der damaligen Zeit verantwortlich. Er lud die berühmtesten zeitgenössischen Ballerinen zu einem gemeinsamen Auftritt ein: Marie Taglioni, Fanny Cerrito, Carlotta Grisi und Lucile Grahn; allein Fanny Elßler wollte sich dem Vergleich nicht stellen. Die Uraufführung von „La Sylphide“ lag gerade ein paar Jahre zurück, es war die Glanzzeit des romantischen Balletts, die vier Damen rankten und schwebten in ihren langen, roséfarbenen Tutus, die Ballettomanen gerieten in Ekstase.

Eineinhalb Jahrhunderte zurück, in diesen magischen, entrückten Moment versetzte der „Pas de quatre“ zu Beginn der alljährlichen Gala des Mariinsky-Balletts in Baden-Baden, der Auftakt eines langen, schönen Abends mit seltenen Preziosen aus der großen russischen (und internationalen) Balletttradition, von den „Stars of the Kirov“ fast durchweg unvergleichlich rein im jeweiligen, angemessenen Stil getanzt. Nicht die Virtuosität der höchsten Sprünge oder der meisten Pirouetten, sondern genau dieses sorgfältige Stilbewusstsein war das Ereignis dieser Gala. Lautlos flogen die vier Ballerinen dahin, reihten leicht und weich ihre vielen kleinen Schritte, die Entrechats und Brisés aneinander, stets nur auf die reine Poesie ihrer Bewegungen bedacht und nicht auf das Ausstellen ihrer Technik.

Mit ihrer sublimen Lyrik gelang es Maria Shirinkina, Yana Selina, Nadejda Gonchar und Ekaterina Kondaurova sogar, die ironische Konkurrenz zwischen den vier Damen vergessen zu machen, die Anton Dolin 1941 in seiner Nachschöpfung der Choreografie eingebaut hat, wenn sie etwa nebeneinander nach vorne trippeln und sich kokett ein bisschen zieren. Zu Recht gebührte Kondaurova dabei in Taglionis Rolle die Krone für ihre natürliche Schönheit und innere Wärme. Wohl war mit Uljana Lopatkina auch wieder einer der beiden großen Stars der Kompanie dabei (Diana Vishneva dagegen lässt sich nie in Baden-Baden sehen), aber die eigentliche Überraschung lag in der neuen Tänzergeneration des Mariinsky-Balletts, die sich mit wenigen Ausnahmen durch eine sehr feine ausziselierte, saubere Technik auszeichnet – die zarte Olesya Novikova zum Beispiel, eine Ballerina wie aus feinster Spitze, oder Vladimir Shklyarov, kein sagenhafter Virtuose vor dem Herrn, aber frisch, offen und strahlend sicher. Gemeinsam tupften sie Balanchines so oft abgenudelten „Tschaikowsky Pas de deux“ auf die Bühne, dass es eine helle Freude war: leicht und locker, mit Liebe zum Detail und einer jugendlichen Spontaneität, die man bei dieser ständig von Gastspiel zu Gastspiel hetzenden Kompanie lange nicht mehr gesehen hat.

Was für ein Unterschied zum Pas d’action aus „Laurencia“! Der Abendfüller von Wachtang Tschabukiani stammt aus dem Jahr 1939, vor kurzem besann sich das Mariinsky-Ballett auf seine sowjetische Tradition und zeigte einen ganzen Abend im harten, heldischen und immer wieder in triumphalen Posen gefrierenden Stil dieser Zeit. Mikhail Lobukhin flog in „Spartacus“-Manier durch seine Variationen und stemmte seine Dame in höchste Höhen, Elena Evseeva drehte so schnell und so viel wie nur möglich: Der Tanz wirft sich in Pose, strebt wie die Gesellschaft zu Höchstleistungen. Grundlage der Handlung von „Laurencia“ ist ein politisches Drama von Lope de Vega, und obwohl der viertelstündige Ausschnitt der Struktur nach bei der alten zaristischen Divertissement-Einteilung in Solisten, Halbsolisten und Corps de ballet verharrte, schwelte unter dem spanisch getönten Klassizismus der Klassenkampf. Die Ballerinen reckten stolz den Kopf nach oben, die Variation einer Solistin endete gar mit geballten Fäusten.

Rein stilmäßig waren wir beim Gegenbild zu den demutsvoll leidenden Flügelwesen des romantischen Balletts angekommen. Als wollte sie Sylvie Guillems moderne Ausflüge zu Russell Maliphant oder Akram Khan nachempfinden, zeigte sich die elegante und sonst makellos-unnahbare Uljana Lopatkina in einer ganz neuen Rolle: auf flacher Sohle, mit roter Strubbelfrisur, modern und expressiv. Die Beziehungskiste „Contradictions“, von ihr in Auftrag gegeben beim bis dato unbekannten Choreografen Francesco Ventriglia zu einer fließenden Musik des Filmkomponisten Yann Tiersen, ließ sich immerhin nicht allzu sehr von Forsythe oder anderen Ikonen der Moderne inspirieren. Als Lopatkinas Partner war der große, stabile Ivan Kozlov vor etwa zwei Jahren von Boris Eifmans Truppe zum Mariinsky-Ballett gekommen und genügt deshalb im Grunde dessen elitären Stilansprüchen nicht – so zu sehen in der letztjährigen „Scheherazade“, wo er an der erotischen Raffinesse des Goldenen Sklaven scheiterte. Hier schlug er sich als moderner Tänzer deutlich besser, war aber kein angemessener Gegenpart zu Lopatkinas exquisiter Ausdruckskraft (was nicht ganz unbeabsichtigt sein dürfte).

Alina Somova fällt mit ihrer modebewussten Vordergründigkeit gegen Stilistinnen wie Lopatkina oder Kondaurova deutlich ab, so zu beobachten in Victor Gsovkys „Grand Pas Classique“; kaum zu glauben, dass sie ein ureigenstes Gewächs der Waganowa-Schule sein soll. Wesentlich intelligenter wirkt da trotz seines unrettbar kindlichen Äußeren ihr Partner Leonid Sarafanov, der nach seiner früheren Effekthascherei nun mit strahlender Souveränität auf Reinheit und Perfektion der Schritte setzt. Als Krönung gab es dann das Schlussbild von „Paquita“, also reinen Petipa-Klassizismus und damit die ureigenste Domäne der St. Petersburger. Vor einem exzellenten Corps - sobald sich zwei oder mehr Tänzer dieser Kompanie parallel bewegen, dann stimmen sie in jedem Sprung, jeder Drehung und jedem Akzent überein – zogen insgesamt sechs Solistinnen ihre Diagonalen, lyrisch, elegisch oder kokett, überstrahlt von der erhabenen und doch bei ihren Fouettés ungewohnt unsicheren Lopatkina. Als müsse er die künstlerische Überlegenheit der Ballerinen in dieser Kompanie noch einmal deutlich bestätigen, plumpste der steife, ja fast bäuerliche Danila Korsuntsev inmitten all der feinziselierten Kunst wie ein Fremdkörper aus seinen Sprüngen auf die Erde zurück. Mag das Bolschoi auch im Augenblick die Nase weit vorn haben beim Vergleich der beiden russischen Kompanien – wegen der Lyrik seiner Ballerinen werden wir St. Petersburg immer ein bisschen mehr lieben...

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