Crankos Erbe
Das Stuttgarter Ballett trauert um Dieter Graefe
Wer in Stuttgart ein Handlungsballett choreografiert, der stellt sich unweigerlich dem übermächtigen Vorbild John Cranko. Noch heute überstrahlt seine Genialität als Dramaturg wie als Erfinder erzählender Schritte fast alle neuen Versuche und sie müssen vor dem großen Vergleich kapitulieren wie zuletzt Mauro Bigonzetti mit seinen „Fratelli“. So blauäugig und flapsig aber, wie sich nun Kevin O'Day an Shakespeares grüblerische Tragödie vom Prinzen Hamlet macht, dazu gehört schon eine Menge Naivität.
Am Freitag hatte das zweieinhalbstündige Ballett Premiere im Opernhaus, die unauffällige Musik zur Uraufführung schrieb der Amerikaner John King, O'Days ständiger Komponist. Der Mannheimer Ballettdirektor, der bereits zwei rasante und ein eher verhaltenes Kurzballett für Stuttgart geschaffen hat, scheitert hier gewissermaßen schon am Erzählen. Sein „Hamlet“ ist ohne Inhaltsangabe kaum verständlich, nicht nur in den zugegebenermaßen komplizierten Rückblenden des Dramas oder bei den heimtückischen Mordarten, sondern allein schon bei den Familienverhältnissen. Hier sehen alle jung und flott aus, Unterschiede zwischen Vater oder Bruder, Mutter oder Schwester sind choreografisch nicht erkennbar. Dabei fängt O'Day klug an, denn er zeigt auch die Vorgeschichte, den Mord an Hamlets Vater. Danach aber ist das Drama auf die reine Aktion, den drögen Ablauf von Hamlets Rachefeldzug zurückgestutzt, ohne jeden Versuch auch das zu zeigen, was Shakespeares Stück eigentlich ausmacht – die Frage nach den letzten Dingen, den Wahnsinn als Zuflucht vor der Wirklichkeit. Teils mit treibenden Percussion-Rhythmen, teils nervös-repetitiv und oft genug so nebensächlich wie eine Filmuntermalung begleitet John Kings Auftragskomposition den Abend, live gespielt vom Staatsorchester unter James Tuggle und von der Tontechnik des Hauses mit einem tollen Raumklang aufgepeppt.
Tatyana van Walsums Kostüme vereinen Hippie-Schick mit dezenter Boss-Eleganz, kombinieren schmale Tuniken und edle Streetwear. Der schöne Minimalismus ihres Bühnenbilds bietet den Tänzern weite Räume und lässt in Kombination mit dem atmosphärischen Lichtdesign Mark Stanleys ein düsteres Helsingör voll trügerischer Türen und Fenster erstehen. Dort aber gibt es statt philosophischer Monologe, statt existenzieller Zweifel am Sinn des Daseins geschlagene zwanzig Minuten lang Schwof am Hof, die poppige Musik dazu erinnert fatal an die Titelmelodien amerikanischer Fernsehserien der 80er Jahre. Zwei „fahrende Tänzer“ (Hyo-Jung Kang und Alexis Oliveira) ersetzen die Schauspieltruppe, die den Meuchelmord an Hamlets Vater nachstellt, vorher aber treten sie als knackiges Disco-Samba-Paar mit Schlitz im Kleid an, Motto: Bein oder nicht Bein. Auch Polonius und Claudius schwofen mit, was weder dem korrekten Kämmerer noch dem kalten König steht – die Charakterisierung der Figuren scheint O'Day zu diesem Zeitpunkt längst entglitten. Noch so eine Ungereimtheit: wenn die „fahrende Tänzerin“ hier beim Spiel im Spiel ihren Partner umbringt, müsste man in der damit angedeuteten Parallele eigentlich vermuten, dass Hamlets Mutter den König ermordet hat, nicht Claudius.
Die Bewegungssprache des amerikanischen Choreografen ist schnell, athletisch und virtuos - wir sehen weite Sprünge, die bildschönen Pirouetten von Evan McKie, Jiří Jelinek oder Alexander Jones, wir sehen jede Menge spektakuläre, leere Solos – nur keine Spannung zwischen den Personen, kein Erbarmen mit diesen entsetzlich verlorenen Menschenkindern Hamlet und Ophelia, die der Choreograf in seiner Dramaturgie herumschiebt wie Schachfiguren. Selbst in den Solos choreografiert O'Day im weit ausholenden Breitwandformat, er kann nur selten den Zoom auf eine Geste oder einen Blick fokussieren. Beziehungen spielen sich in den allzu oft gesehenen Klischee-Gesten ab – der Kopf am Herz der Geliebten, die Hand auf der Schulter des Freundes. Hamlets Verhalten zu den Personen um ihn herum ist immer direkt, nie trügerisch oder zynisch. Er setzt den Wahnsinn nicht als Täuschung ein, nie zweifeln wir an seiner Verzweiflung. Der junge Prinz hat seinen Dad verloren und ist deshalb traurig: so banal kann „Hamlet“ sein. Da hilft auch die berühmte Pose mit dem Schädel in der Hand nichts – die eindimensionale Charakterisierung ist ganz bestimmt nicht Jason Reillys Fehler, der zum Beispiel als Carabosse in Marcia Haydées „Dornröschen“ beweist, wie brillant er changierende Figuren spielen kann. Kevin O'Day aber, dem die Lyrik so viel schwerer fällt als die Rasanz, lässt Hamlet hier weder das verzerrte Clownsgesicht des Maskierten noch die Melancholie des Nihilisten zeigen. Vielleicht, vielleicht aber wäre auch ein zarter Tänzer wie damals Egon Madsen für diesen Part besser geeignet als der virile Reilly (dass es beim Stuttgarter Ballett schon einmal ein Hamlet-Ballett gab, verschweigt uns das Programmheft leider: 1976 kam John Neumeiers Einakter „Der Fall Hamlet“ zu Musik von Aaron Copland als Übernahme vom ABT, die für Michail Baryschnikow kreierte Titelrolle interpretierte in Stuttgart dann Egon Madsen).
Wie so oft retten die Stuttgarter Tänzer den Abend: Bridget Breiner als Hamlets Mutter, Jiří Jelinek als König Claudius und Alicia Amatriain als Ophelia werfen sich mit aller Kraft in ihre Rollen und hätten doch genau wie der Rest der nur 21 Beteiligten Besseres, Tieferes verdient. Ganz klar profitiert in diesem Fall der Choreograf von den Tänzern, nicht die Tänzer vom Stück wie noch bei John Neumeiers „Othello“. Selbst die komischen Rollen bleiben blasse Nebenfiguren. Ein neues Handlungsballett, eine neue Enttäuschung. Vielleicht muss man als Choreograf heute eine völlig andere Weise des Erzählens finden als die übermächtigen Vorbilder - ironisch durch Zeit und Raum huschend wie Christian Spuck in seiner „Lulu“ oder surreal und assoziativ wie Marco Goecke in seinem „Nussknacker“. Vielleicht sollte man auch als Choreograf für sein allererstes Handlungsballett nicht gleich das bekannteste Drama der Weltliteratur wählen.
Link: www.stuttgart-ballet.de
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