Der Tanz geboren aus Schlamm im Vorfrühling

Dem Butoh-Tänzer Hijikata zum 80. Geburtstag

Heilbronn, 09/03/2008

Nur mit einem Lendentuch bedeckt, windet sich sein bis auf die Rippen ausgemergelter Körper am Boden zu den spröden Klängen der traditionellen Gidayu-Musik. Ein Gefallener, ein Gestrandeter, der mit letzter Anstrengung versucht wieder auf die Beine zu kommen. Die weiße Schminke blättert von der Haut wie Grind von einer Wunde. Das Filmdokument zeigt Tatsumi Hijikata in „Shizuka na Ie“ (Ein stilles Haus), die Szene einer typischen Hijikata-Choreografie, abgründig, anarchisch und düster. Sind es nicht die Bilder der Auszehrung und des Todes, in denen der hässliche Körper die unbeschreibliche Schönheit des Lebens enthüllt?

Geboren am 9. März in Akita (Präfektur Tohoku) ist der Tänzer und Schriftsteller Tatsumi Hijikata (1928 – 1986) die zentrale Figur der japanischen Avantgarde der 50er, 60er, 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Als Gründer des Butoh (ursprünglich Ankoku Butoh = Tanz der Dunkelheit) hat er nicht nur immensen Einfluss auf die postmoderne Entwicklung des Tanzes und auf das japanische Undergroundtheater genommen, er gilt auch als intellektuelles und produktives Zentrum eines Kreises der wichtigsten Theaterleute, Schriftsteller, Literaturwissenschaftler, Musiker und Bildenden Künstler des Nachkriegsjapans.

Geboren als zehntes von elf Kindern nannte ihn seine Mutter Kunio, den am Neunten Geborenen. Als Kunio Yoneyama beginnt der 18-Jährige seine Tanzlaufbahn bei Katsuko Masumura, einer Schülerin von Takaya Eguchi und Baku Ishii. Beide hatten bei Mary Wigman Neuen Tanz studiert, der im Ausland als German Dance wegen seiner Disziplin und Härte sehr anerkannt war. Mit 23 Jahren verlässt er den kargen Norden Japans, um in Tokio sein Glück zu versuchen, wo er Kazuo Ohno und Mitsuko Ando tanzen gesehen hatte. Er jobbt als Hafenarbeiter, handelt mit Müll und studiert Tanz, darunter Ballett, Flamenco und Jazztanz.

Die Differenz zwischen Privatperson und Bühnenfigur wird im traditionellen Theater Japans durch Bühnennamen verdeutlicht. Wichtig ist im Kabuki der allererste Auftritt, das Kao-Mise, das „Gesicht zeigen“ des Akteurs. Anlässlich seines ersten Auftritts 1954 in Tokio im Stück „Tori" (Vögel) nennt sich Kunio Yoneyama in Anlehnung an die japanische Theatertradition nun Kunio Hijikata. Dieser Bühnenname bekleidet ihn als Mitglied von Andos Unique Ballet Group vier Jahre bis 1957. Ein Jahr später choreografiert und tanzt er einen Part in „Haniwa no mai“ (Tanz der Grabhügelfigurine) erstmals unter dem neuen und endgültigen Bühnennamen Tatsumi Hijikata. Sein eigentliches Coming Out – auch als die Geburtsstunde des Butoh bezeichnet – ist 1959 das 10-minütige Stück „Kinjiki“ (Verbotene Farben), das auf dem gleichnamigen Roman von Yukio Mishima beruht. Erotische wie homoerotische Anspielung und das Erwürgen eines Huhns auf offener Bühne verursachen einen Skandal, der zum Austritt Kazuo Ohnos und Hijikatas aus dem Berufsverband führt und mit dem die Weiterentwicklung des Butoh in der Subkultur beginnt.

Nach dem Ursprung seiner spezifischen Tanzästhetik gefragt, verweist Hijikata zeitlebens auf frühkindliche Prägungen: „Im Vorfrühling ist der Wind, der über den matschig-nassen Schlamm weht, etwas Besonderes. Immer wieder habe ich mich im Vorfrühling in den Schlamm fallen lassen und mein kindlicher Körper, erbärmlich bis ins Innerste, ließ sich sanft treiben. Es ist, als wäre mein Körper aus seinem Innersten an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt. Ob eine zerquetschte Blüte dahinwelkt oder das Gesicht eines Pferdes magerer und magerer wird, alles wird zur Erzählung des Körpers. So im Schlamm versunken öffnet sich meine Fußsohle wie ein Mund und saugt den Schlamm von der Sohle. Ich stelle fest: mein Butoh hat damit begonnen, was ich vom Schlamm erfahren habe.“

Ahnen und Tote sind meine Lehrer, bekennt er und kommt immer wieder auf das symbiotische Verwandtschaftsverhältnis zurück: „Ich habe oft davon gesprochen, dass in meinem Körper eine ältere Schwester von mir lebt. Wenn ich aufzustehen versuche, hockt sie sich hin. Wenn ich hocke, dann steht sie auf. Wenn ich mich mit meinem Tanz beschäftige, isst sie die Finsternis in meinem Körper auf.“ Der Leib als dunkles, rauschhaftes Medium, aus dem unzählige Erinnerungen auftauchen, die seine tänzerische, choreografische und literarische Phantasie ernähren.

Am 21. Januar 1986 stirbt Hijikata an Leberkrebs. „Hakushu, hakushu shite kudasai!” (Applaus! Bitte applaudiert!) sollen laut seiner Witwe Akiko Motofuji Hijikatas letzte Worte gewesen sein. Tatsumi Hijikata ist bereits wochenlang bettlägerig, er hängt am Tropf und gibt, umringt von Schülern, Künstlern und Familienangehörigen - mit den Schläuchen vereint - einmal mehr sein Letztes, also sein Bestes.

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