Ein hinreißend schöner Rahmen für ein Meisterwerk

Das Niederländische Nationalballett rekonstruiert van Manens „Situation“ und fügt dem alten Stück neue Schönheiten hinzu

Amsterdam, 16/06/2008

1975 taten sich die drei Hauschoreografen des Niederländischen Nationalballetts, Rudi van Dantzig, Hans van Manen und Toer van Schayk zusammen und schufen, indem sie die Musik in kleinen Happen unter sich aufteilten, „Collective Symphony“ zu Igor Strawinskys Sinfonie in C, eine in der Tanzgeschichte einmalige Gemeinschaftsproduktion. 33 Jahre später knüpfen die drei neuen Hauschoreografen des Ensembles, Ted Brandsen, Krszysztof Pastor und wiederum van Manen, an die beste, glorreichste Zeit von Het Nationale Ballet an und erweitern den Zusammenschluss sogar um eine Reihe jüngerer Choreografen; zu Recht feiert das Niederländische Nationalballett seine Holland Festival-Produktion „in space“ als Kollaboration dreier Choreografen-Generationen.

Kernstück des Programms, das in pausenlosen 100 Minuten als hinreißend schöner Augenschmaus am Betrachter vorbeizieht, ist Hans van Manens 1970 uraufgeführtes Halbstunden-Stück „Situation“. Der Choreograf schickt fünf Frauen und fünf Männer – die Frauen in marineblauen T-Shirts über fleischfarbenen Strumpfhosen, die Männer in Jeans bei nacktem Oberkörper – in ein von Jean-Paul Vroom mit vergrößertem Millimeterpapier ausgeschlagenes, nur durch eine Tür an der rechten Seite betretbares Zimmer, das von drei Glühbirnen in offenen Fassungen erleuchtet wird, während im Hintergrund eine Digitaluhr die reale Zeit anzeigt. Van Manen benutzt ausnahmsweise keine Musik, sondern nur durchweg aggressive Geräusche von einer Schallplatte für Amateurfilmer: das Plätschern des Regens, das Rauschen einer Wasserspülung, das bedrohliche Summen von Moskitos, das Heulen von Düsenjägern, Gewehrsalven und die Detonation vom Bomben. Denn van Manen zeigt: menschliches Verhalten unter Laborbedingungen – und das ist nicht friedlich. Auf die unpersönliche, fast abstrakte Gewalt im Kollektiv und gegen das Kollektiv zu Beginn lässt van Manen die subtilen Brutalitäten des Alltags folgen, die ideologisch an keine Ismen gebunden sind. Er zeigt heterosexuelle und homosexuelle Zweierbeziehungen und somit das, was Menschen miteinander anstellen, wenn sie auf Dauer miteinander zu leben gezwungen sind und der Vorrat an Liebe, Toleranz und Geduld aufgezehrt ist und für eine humane Gemeinsamkeit nicht mehr ausreicht.

„Situtation“ ist ein Meisterwerk, das in fast vierzig Jahren nichts von der Wahrheit seiner Aussage noch von seiner ästhetischen Qualität eingebüßt hat; im Gegensatz zu vielen anderen Werken van Manens ist es international erst noch zu entdecken. Das Niederländische Nationalballett, wo der Choreograf nach einigem Hin und Her wieder zu Hause ist, baut dem alten Stück mit „in space“ einen prachtvollen neuen Rahmen, dessen beste Bestandteile es mit dem Meisterwerk durchaus aufnehmen können. In der Einleitung nehmen die jungen Choreografen Juanjo Arques, Daniela Cardin, Peter Leung, Nicolas Rapaic und Michael Schumacher das Wort „space“ wie Raum ganz wörtlich und zweckentfremden, zusammen mit dem Jazzer Michael Moore und seiner Combo, das komplette Muziektheater an der Amstel, einschließlich Foyer und Parkett, zur Spielstätte. Das ist weder unbegabt noch uninteressant.

Doch zu seiner wahren Größe findet „in space“ erst auf der Bühne. Das komplette Programm scheint nun Hans van Manens Motto zu gehorchen: Tanz handelt von Tanz. Es gibt nicht die Spur einer Anekdote: nichts als die reine Schönheit von Bewegung. Schon Krzysztof Pastors „Moving Rooms“ zur Musik von Alfred Schnittke und Henryk Mikolaj Gorecki wartet, schnell und brillant, mit tänzerischen Abläufen auf, wie man sie nicht alle Tage sieht. Doch Ted Brandsens „the space between“ bringt noch einmal eine Steigerung: zu Kompositionen von Philip Glass eine hinreißend schöne, von einem permanenten Drive vorangetriebene Ensemble-Choreografie, die von der von drei Partnern unterstützten Larissa Lezhnina angeführt wird. Über die kleine Uraufführung „tears“, die Hans van Manen dem (toten?) Freund John ter Kulve widmet, mit der grandiosen Igone de Jongh, die dank der Partnerschaft von Alexander Zhembrovskyy kaum den Boden berührt, spielt sich die Aufführung in ein Finale, wie es die Tanzwelt noch nie gesehen hat. Zu „Short Ride in a Fast Machine“ von John Adams führen Hans van Manen, Ted Brandsen und Krzysztor Pastor ein Riesenensemble, das Keso Dekker ganz gegen seine Gewohnheit mit perfekten Trikots in allen Farben des Regenbogens ausgestattet hat, zu einer tänzerischen Schlussoffensive von einmaliger Wucht und Stringenz. Am Ende bewegen sich mehr als 70 Tänzer auf der Bühne des Amsterdamer Muziektheaters in einem überwältigend perfekten, alles andere als eintönigen Gleichschritt – und, oh Wunder: Die Sache funktioniert; wann hat man so etwas je gesehen? Noch in der zweiten Vorstellung, die als Matinee am Tag nach der Premiere stattfand, erhob sich das Publikum spontan zu einer „standing ovation“. Es wusste, was gut ist.

Kommentare

Noch keine Beiträge