Aktuelles aus der Choreografen-Schmiede
„Made in Germany“: eine hauseigene Gala des Stuttgarter Balletts in Ludwigshafen
Goecke, Lee, Scholz, Breiner, Volpi: Choreografie aus Stuttgart
Wieso taucht in der schön alphabetisch geordneten Auflistung der Namen Bridget Breiner plötzlich zwischen Scholz und Volpi auf? Es ist nicht die einzige Irritation in der Ankündigung des neuen Abends des Stuttgarter Balletts im Schauspielhaus. Fünf Titel also, aber ein Übertitel ist den Veranstaltern offenbar nicht eingefallen. Mir übrigens auch nicht. Und so lesen wir: „Leviathan“, „Sirs“, „Swish“, „Notations I-IV“ und „Alben“. Was sie zu bedeuten haben, erfahren wir nicht in den ausführlichen Autorenbiografien im Programmheft. Auch nicht in dem vier volle Seiten umfassenden Gespräch mit Goecke über dessen uraufgeführte „Alben“.
Man versuche nur einmal, für sich selbst das Resultat dieses typischen Dramaturgen-Blabla zusammenzufassen. Die Dramaturgie des Stuttgart Balletts scheint nicht erst jetzt dringend reformbedürftig. Vielleicht sollten die Stuttgarter einmal um Entwicklungshilfe beim Hamburger oder beim Bayerischen Staatsballett nachsuchen! Zu Beginn also „Leviathan“ von Douglas Lee zu Steve Reichs „Sextet“ – und wer, bitte, ist Leviathan? Das Programmheft zitiert John Milton mit dem „Paradise Lost“: „... there Leviathan. Hugest of living creatures on the deep Stretch‘d like a promontory, sleeps or Swims. And sees a moving land ...“ Ich verstehe: lediglich Bahnhof! Hilfe Wikipedia! Dort lese ich: ein biblisch-mythologisches Seeungeheuer. Aha! Von See ist auf der Bühne weit und breit nichts zu sehen – von Ungeheuer auch nicht, und mythologisch mutet die Neun-Tänzer-Equipe auch nicht gerade an, eher sehr heutig in ihren schick und sexy knappen Kostümen von Ines Alda, die auch die Hubpodeste der Szenenlandschaft entworfen hat, deren verschiedene Ebenen sich ständig verschieben.
In ihr tummeln sich die Tänzer zu Steve Reichs „Sextet“ um die kautschukartig sich drehende und wendende Katja Wünsche – ein Ungeheuer an Biegsamkeit, der man offenbar die Wirbelsäule herausoperiert hat. Und so fliegen sie durcheinander, alles andere als schlafend – und wenn schon schwimmend, dann gewissermaßen luftschwimmend, in immer neuen Paarungen und Gruppierungen. Und Douglas Lee, sonst eher ein Laokoon-Tüftler, führt sie ganz leicht und flüssig, mit plötzlichen Synkopen-Stops durch ihre locker aneinander gereihten Arrangements. Das macht Spaß, ihnen und uns und signalisiert den Gewinn einer nonchalanten Leichtigkeit, die wir unserem Apollo von der Themse nicht so ohne weiteres zugetraut hätten. Seine beste Stuttgarter Arbeit bisher! Weiter so – gern auch mit verständlicherem Titel!
Danach dann also die heimgekehrte Bridget Breiner, mit ihren schon jüngst bei der Noverre-Gesellschaft vorgestellten „Sirs“. Damit sind wohl die drei Boys gemeint, Sébastien Galtier, Marijn Rademaker und Damiano Pettenella, die sich so gar nicht Sir-haft um die pfiffige Linda Waasdorp bemühen, sondern eher, als ob sie gerade ihr Abitur in der Schule von Robert North‘ „Troy Game“ abgelegt hätten. Und auch das folgende „Swish“ des gerade mal 22-jährigen Demis Volpi für ein Tänzerquartett (Katja Wünsche und Arman Zazyan, Angelina Zuccarini und Petros Terteryan) hatte schon seine Noverre-Generalprobe hinter sich, eine Schiebe-, Zieh- und Gleitscharade mit pfeilgespitzten Füßen, die sich den Raum erobern. Gegenüber Breiners sophistischem Witz noch etwas hölzern, aber jugendforsch und amüsant zweifellos (und im Publikum noch ein weiterer alter Stuttgarter Bekannter aus Kanada: Peter Quanz – als klassischer Junior-Choreograf heute hin und her jettend zwischen Philadelphia, Montreal und St. Petersburg – hierzulande nur auf Stippvisite, als ob unser Repertoire nicht auch dringend einer klassischen Hormonspritze bedürfte).
Immer wieder gern gesehen: Uwe Scholzens „Notations I-IV“, ursprünglich choreografiert für Vladimir Malakhov, doch inzwischen vom rotbehosten Alexander Zaitsev so verinnerlicht, dass man den Eindruck hat, als ob das Boulezsche Zählwerk der Noten seinem Körper implantiert worden sei. Und zum Schluss also der mit Spannung erwartete neue Goecke: „Alben“ zu Beethovens „An die ferne Geliebte“ und Miles Davis´ „My Funny Valentine“. Ich habe allerdings keinen Beethoven gehört – aber daran ist möglicherweise meine Schwerhörigkeit schuld. Kein Hinweis auf die Bedeutung des Titels. Also machte sich meine Fantasie wieder einmal selbständig. Und interpretierte den herabgestürzten und gekippten Kronleuchter als Überrest des Balls bei den Gremins in St. Petersburg. Und die geschlechtsuniformierten zwei plus drei Schwarzalben als Vorboten der Oktoberrevolution. Aber nach einer Weile meinte ich, es wohl doch eher mit der abgesoffenen Titanic auf dem Meeresboden zu tun zu haben, umhallt von der Endlosschleife des „My Funny Valentine“. Und die Schwarzalben erschienen mir nun eher als die Untoten der Katastrophe, die sich da zuckend in der bekannten Goeckeschen Gebärdensprache verlautbarten.
Genaueres konnte ich freilich nicht ausmachen, da alles sich in der schummerigen Dunkelheit abspielte (war es vielleicht nicht die Titanic, sondern die Wilhelm Gustloff?). Nie zuvor hat mich ein Goeckesches Ballett so kalt gelassen. Na ja, bei diesen Temperaturen auf dem Meeresboden! Und so verabschieden wir unsere heißgeliebten Stuttgarter nach London, zu ihrem dortigen Gastspiel im Coliseum mit Crankos „Romeo und Julia“ – auch nicht eine Vorstellung, in der die Londoner sich einmal einen Eindruck davon verschaffen könnten, wie es denn um die zeitgenössische Kreativität der Kompanie bestellt ist.
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