Ungeheuer und Nachtalben

Neues von Marco Goecke und Douglas Lee beim Stuttgarter Ballett

Stuttgart, 17/03/2008

Die einzige Überraschung, die einzige neue Handschrift des Abends fiel aus - der rumänische Choreograf Edward Clug, bislang ein Unbekannter in Deutschland, musste sein geplantes Stück verschieben. Trotz zweier Uraufführungen war der neue Abend des Stuttgarter Balletts deshalb nicht wirklich prickelnd - die Stücke von Douglas Lee und Marco Goecke bewegen sich im gewohnten Stil der beiden Choreografen, als Ersatz für Clug gab es im Schauspielhaus zwei Miniaturen vom letzten Noverre-Abend und die altbekannten „Notations I-IV“ von Uwe Scholz.

Fünf verschiedene choreografische Handschriften also führt das umständlich betitelte Programm „Goecke/Lee/Scholz/Breiner/Volpi“ vor, wobei das lange Solo von Scholz sicher die polyglotteste Sprache, das größte Repertoire an Bewegungen repräsentiert. Intensiv und hochmusikalisch wie immer tanzt Alexander Zaitsev an der Grenze des konditionell Möglichen - und doch hat er das Solo nun schon so oft interpretiert, dass eine andere Besetzung auch mal spannend wäre. Nur sechs Minuten lang ist „Sirs“, der Pas de quatre von Bridget Breiner, aber es passiert eine Menge. Zu einer Ballade von Nina Simone, zu jazzigen Klängen zwischen Spielmannslied und Country umschwirren drei hechelnde Verehrer eine schnippische Dame, lässig und doch virtuos, männlich und doch verspielt wie die Kinder. Breiners staunenswert dichte Choreografie spielt mit pantomimischen Elementen auf den Inhalt der Ritter-Ballade an und trifft liebevoll deren hintersinnige Ironie. Wie aggressive Stacheln setzt Demis Volpi die Beine der Tänzerinnen ein, laut klöppeln und trommeln in „swish“ die Spitzenschuhe auf den Boden oder sie rutschen den beiden Frauen voran, wenn ihre Kavaliere sie über die Bühne schieben. Zu puppenhaft-minimalistischen Klängen huscht das Stück des blutjungen argentinischen Tänzers in einer flüchtigen, exzentrischen Poesie dahin, eben mit dem „swish“ des Titels, das ein müheloses Dahinsausen meint. Wie Breiners Stil ist auch diese neue Stuttgarter Handschrift vor allem von Leichtigkeit geprägt - sicher werden wir von beiden Choreografen noch mehr sehen.

Das Gegenteil dazu zeigt Douglas Lee, der sich mit „Leviathan“ endgültig in einer unfreien, gequälten und viel zu prätentiösen Ästhetik festgefahren hat. Eingehüllt in glänzenden Schick und völlig seelenlos finden sich die neun Tänzer zu Paaren oder Trios, gefrieren immer wieder in einem nach vorne gebeugten Vorwärtsschritt. Geradezu panisch vermeidet der britische Choreograf gerundete Arme oder schöne Bewegungen, die Gliedmaßen werden extrem durchgedrückt. Auf das persönliche Charisma der Tänzer kommt es hier kaum an, bei Lees kaltem, unpersönlichen Stil ist es eigentlich egal, wer tanzt. Interessant wirkt dabei einzig das riesige Loch im Boden, über das sich ein funkelndes Sternenmeer aus Lämpchen herabsenkt; das titelgebende Seeungeheuer aus der Bibel bleibt genauso verborgen wie eine irgendwie geartete symbolische Umsetzung des unheilvollen Titels.

Und selbst Marco Goecke, ansonsten Garant für Überraschungen jeglicher Art, beschert uns mit „Alben“ ein außergewöhnlich sprödes Stück, introvertierter als sonst und dunkel bis zum Nichts-mehr-Erkennen (wahrscheinlich bekam er genau dafür ein paar wütende Buhrufe). Michaela Springer, seine kongeniale Bühnenbildnerin, legt ihm einen riesigen, meterbreiten Kronleuchter in die Mitte der Bühne, der manchmal leise klirrt, wie eine verblickene Erinnerung aufdämmert oder uns blitzartig blendet. Wie immer bei Goecke herrscht kein Mangel an Assoziationen - vielleicht versetzen uns alte Poesiealben in einen verfallenen Ballsaal, vielleicht sind mit den Alben auch die Nachtmahre aus den Albträumen gemeint, einer von ihnen klettert anfangs auf dem Leuchter herum. Leise, ganz leise klingt ein Fetzen aus Beethovens „An die ferne Geliebte“ herein, aber die meiste Musik stammt wieder von den fünf Tänzern selbst: Es brummt, keucht, tickt und raschelt. Dann improvisiert Miles Davis über „My funny valentine“, und langsam, fast unmerklich ergreift die Jazzmusik Besitz von den Tänzern, sie grooven extatisch in sich hinein. Ein wenig wirkt das eigenbrötlerische Stück, als könnte der Choreograf seine Ideen nicht ganz loslassen, als wollte er zu viel für sich behalten. Und bei aller Liebe zu Uraufführungen - vielleicht würde ein fetziger Abend aus dem Repertoire den müden Tanz im Schauspielhaus wieder etwas beleben.

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