Prekäre Balancen

Uraufführungen von Douglas Lee, Demis Volpi und Bridget Breiner

Stuttgart, 03/04/2010

Das modisch gekleidete Ballett trägt in dieser Saison schwarz. Beim neuen Uraufführungsabend des Stuttgarter Balletts war es oft so düster auf der Bühne des Schauspielhauses, dass man sich fragte, ob das Staatstheater wohl Strom sparen muss. Was man im Dunkel erkennen konnte, war abwechslungsreich, zeigte drei sehr unterschiedliche Handschriften und dürfte dem Stuttgarter Ballett zumindest einen neuen, hochtalentierten Nachwuchschoreografen beschert haben. Alle drei Namensgeber des neuen Abends „Breiner Lee Volpi“ stammen aus der eigenen Kompanie, alle drei tanzen noch, und alle drei wurden bei den Noverre-Abenden entdeckt.

Douglas Lees „Nightlight“ spielt in einer Drachenhöhle, wo metallische Schläuche an der Decke hängen und sich auf dem Boden kringeln (Ausstattung: Ines Alda). Wie beobachtende Augen leuchten Scheinwerfer von allen Seiten herab und durchdringen doch kaum die tiefe Nacht, der gemurmelte Text will mit Absicht nicht verstanden sein. Ansonsten ist alles wie immer in den depressiven Balletten des Ersten Solisten aus England: die sparsam tröpfelnde Musik, an der sich die Choreografie nicht zwangsläufig orientiert, die seelenlosen und ultrabiegsamen Kunstwesen, die maschinenartig gleichbleibende Abfolge überdehnter Bewegungen. War Ballett je eine grazile, leichte Kunst? Bei Douglas Lee sieht es mühsam, klebrig, gequält und von Jahr zu Jahr prätentiöser aus, wie Forsythe unter Beruhigungsmitteln.

Bridget Breiner dagegen geht das Choreografieren leicht von der Hand, in einem verspielten, ironischen, eher sportiven als akademischen Stil. Viele leere Bilderrahmen aus einfachem Holz schweben, von klein bis bühnenfüllend, quer über die Bühne, dazwischen tollen acht Jungs in grauen Kapuzenshirts herum. Die raffinierte Toncollage von „Letters of Others“ mischt eine fröhliche Bläsermusik von Jean Françaix (deren genauerer Titel dem Programmheft leider nicht zu entnehmen ist) mit vorgelesenen Briefen aus einer amerikanischen Radiosendung, im ernsteren Teil erklingt die Klavierbegleitung einer Purcell-Arie.

Dass sie ihrem originell ausgedachten Ballett viel, zu viel von seiner Wirkung raubt, weil ein deutsches Publikum mit diesen englischen Textmengen überfordert ist, dürfte Breiner an der eher zurückhaltenden Reaktion gemerkt haben. Denn obwohl ihre flüssig-flapsige, immer nur andeutungsweise pantomimische Choreografie den Sprachrhythmus subtil aufnimmt und den vorgelesenen Text fast wie eine Melodie benutzt, bezieht sich der Tanz natürlich auf den oft merkwürdigen Inhalt der Briefe: ein freches Bewerbungsschreiben, eine abgesagte Hochzeit, eine Kunstkritik mit der schönen Wertung „Sie sind ein Witz!“. Den manchmal unfreiwillig heiteren Briefen, die wie in einer amerikanischen Sitcom mitsamt den Lachern erklingen, stehen wenige ernste Texte gegenüber, kurze Einblicke in das Leben fremder Menschen - ein Abschied vor dem Tod, der verzweifelte Bericht von einer Frühgeburt.

Bridget Breiner bedenkt jeden ihrer spielenden Jungs mit seinem ganz speziellen Solo, neben Marijn Rademaker und Jason Reilly beeindrucken Tomas Danhel und der junge Daniel Camargo. Das hübsche, vielleicht ein wenig harmlose Ballett geht am Ende in eine rasante, witzige Burleske über und macht dann am meisten Spaß, wenn man wirklich gut Englisch kann.

Demis Volpis „Big Blur“ beginnt in der hintersten Tiefe der Bühne, deren schwarze, hohe Seitenkulissen sich nach vorne trichterartig öffnen. In seinen Solos und Duos, um die eine geheimnisvolle Gruppe verblichener Ballerinen herumtrippelt, beweist der junge Argentinier eine geradezu übersprudelnde Fantasie beim Erfinden neuer Bewegungen. Sein Stil ist eine groteske Variation auf die Danse d’école, deren Elemente er wie ein DJ sampelt, multipliziert, verzerrt und übersteigert. Die klassischen Exerzitien, die Pirouetten, Sprünge, Reverenzen oder Ronds de jambe laufen aus dem Ruder oder steigern sich zu nervösen Ticks, behalten dabei aber irgendwie Reste ihrer Grazie und schönen Linie.

Volpis Imagination beschränkt sich nicht auf Arme oder Beine, er bewegt den gesamten Tänzer in allen nur denkbaren Lagen und Richtungen, mit oder ohne Partner, kniend oder aufeinander gestapelt, spiegelbildlich oder seitlich, als Pingpongball oder minutenlang schwebend, mit blitzartigen Assoziationen zu Kampfkunst, arabischem Tanz, Beschwörungsritual, und in einer faszinierenden Dynamik zwischen Zeitlupe und frenetisch schnell.

Wie Geister aus der Vergangenheit – auf die unklaren Umrisse von Erinnerungen bezieht sich der Titel „Big Blur“: „großer verschwommener Fleck“ – lauert die geheimnisvolle Matrix aus verschleierten Sylphiden in den Seitenkulissen, trippelt als bedrohliche Heerschar hinter den einsamen Solisten herum. Wie ein Nachtmahr, eine drückende Erinnerung liegt Katja Wünsche auf Arman Zazyans Rücken, die Frauen stehen schräg auf der Spitze oder kippen über die Spitze nach vorne in eine prekäre Balance.

Spitzenschuhe dienen bei Volpi nicht unbedingt zur luftigen Erhebung über die Schwerkraft, sondern sehen wie Messer aus, die sich in den Boden bohren. Philippe Ohls Percussionmusik beginnt als endloser Trommelwirbel, variiert zunächst nur in der Lautstärke und verweigert beständig den Tusch, der im Zirkus eigentlich kommen würde – vielleicht rührt daher ihre nervöse Spannung, der aufwühlende Sog, der sich auf Volpis Ballett überträgt. Genau wie bei Bridget Breiner sehen die Stuttgarter Tänzer, ob Solisten oder Corps-de-ballet-Tänzer, auch in diesem Stil großartig aus – neben Wünsche und Zazyan auch David Moore, William Moore, Elizabeth Wisenberg, Elisa Badenes, Angelina Zuccarini und Oihane Herrero. Ein wenig nagt an Volpis Stück der Einwand, als hätte sich hier einer ausgetobt, der seine überbordende Einfallskraft zukünftig in bedeutungsvollere Bahnen kanalisieren muss. Angesichts des monotonen, epigonalen Stils so vieler moderner Choreografen aber lassen wir uns gerne überwältigen.

www.stuttgart-ballet.de

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