Hamburg 34 im Nachklapp

Ein Buch, 3 DVDs und die neu aufgelegte Wiener „Josephs Legende“ von 1977

oe
Stuttgart, 21/07/2008

Ein Buch? Ein Prachtband in flammendem Rot, glänzend aufgemacht, das übliche Format sogenannter Coffeetable-Books weit hinter sich lassend, 3,7 Kilogramm schwer: 68 Premieren und 3577 Vorstellungen bilanzierend, 576 Seiten insgesamt, ein Luxusprodukt deutscher Buchdruckkunst und sicher die aufwendigste aller bisherigen Ballettpublikationen, das ist „John Neumeier – In Bewegung“, herausgegeben von Stephan Mettin in der Collection Rolf Heyne, gewidmet „Für Marianne“, in der unschwer die Leiterin der Ballettschule des Hamburg Ballett zu erkennen ist, erschienen in München 2008, zum stolzen Preis von 135 Euro.

Das ist kein Buch, um es ins Bett mitzunehmen und vor dem Schlaf ein bisschen darin herum zu schmökern – dafür ist es viel zu schwer und außerdem so anregend, dass man vom Hundertsten ins Tausendste gerät, von der Überfülle der schwarz-weißen und farbigen Fotos in den Sog gerissen – eine nicht zu stoppende Lektüre. Neumeier selbst nennt es „eine fragmentarische Autobiografie“, aber es ist viel mehr: ein Netzwerk vierunddreißigjähriger kontinuierlicher Ballettarbeit – ein Puzzle aus Notizen, Kommentaren, Beschreibungen, Überlegungen, Reden, Gesprächen, Vorstellungen, Werkstatt-Matineen, Gastspielen, Briefen, Programmheftartikeln, geordnet nach Spielzeiten, mit jeweils vorangestellten Rückblenden – nebst gelegentlichen Polemiken (davon zwei gegen den Verfasser dieser Zeilen gerichteten – vom Adressaten ausdrücklich begrüßt, der sich immer wünscht, mit gegensätzlichen Reaktionen konfrontiert zu werden, worauf sich die Betroffenen leider nur in Ausnahmefällen einlassen).

So rundet sich ein Dritteljahrhundert lokaler deutscher Ballettgeschichte, wie es das in dieser Qualität nie zuvor so dauerhaft in Deutschland gegeben hat – eine „Ära“, die an Bournonville in Kopenhagen, an Petipa in St. Petersburg und an Balanchine in New York denken lässt (kein Vergleich mit den viel kürzer befristeten Engagements von Noverre und den diversen Taglionis vielerorts oder von Viganò in Mailand). Ach hätten wir doch ähnlich umfassende Dokumentationen über das Wirken der großen Ballettschöpfer durch die Jahrhunderte! Was ich mir lediglich gewünscht hätte, wären noch ein paar zusätzliche Überlegungen Neumeiers zu der so frappierend unterschiedlichen Einschätzung seiner Ballette in Europa und Amerika gewesen – die ja auch die Arbeiten anderer Kollegen (ich denke an Béjart, Kylián und van Manen) betrifft. Ich bin überzeugt davon, dass Neumeiers Gesamtleistung eines Tages der gleiche kulturhistorische Rang zuerkannt wird wie Lessings „Hamburgischer Dramaturgie“.

Pünktlich zu den 34. Hamburger Ballett-Tagen ist die 3 DVD-Box „John Neumeiers Ballett-Werkstatt“ erschienen (ARD-Video, 530 Minuten, 39,95 Euro) Sie enthält die 1977 und 1982 vom ARD Studio Hamburg aufgezeichneten und mit der Goldenen Kamera ausgezeichneten Matineen, in denen Neumeier so etwas wie eine Schule des Ballett-Sehens gegründet hat. Darin geht es um die Grundbegriffe des klassisch-akademischen Tanzes, die zunächst im Training definiert und demonstriert und dann weiterentwickelt werden: „Von der Technik zur Rolle“, „Die Optische Dramaturgie des Tanzes“, „Die Handlung des Tanzes“ und „Das Symphonische Ballett“.

Im zweiten Teil heißen die einzelnen Stationen dann „Auf Spitze“, „Der Mann tanzt“, „Pas de deux – wortloser Dialog“ und „Musik und Ballett“. Neumeier erläutert das ebenso charmant wie informativ und unternimmt dabei einen Streifzug durch die gesamte Ballettgeschichte. Vorgeführt werden die Beispiele von Tänzern des Hamburger Balletts, darunter viele Solisten der ersten Stunde, unter anderen von Lynne Charles, Marianne Kruuse und Beatrice Cordua, François Klaus, Kevin Haigen, Ivan Liška und Max Midinet, die große Ausschnitte aus den Klassikerproduktionen, aber auch aus zahlreichen Neumeier-Kreationen (bis hin zu den Mahler-Sinfonien, dem „Sommernachtstraum“ und der „Kameliendame“) tanzen.

Das ist außerordentlich instruktiv, und ich gestehe gern, dass ich keine bessere Einführung in die Technik und das Wesen des Balletts kenne – inklusive der Grundregeln des Choreografierens. Hinzu kommt als Bonus das Bekenntnis Neumeiers zum Tanz als elementares Bedürfnis menschlicher Existenz – und als wunderbare Symbiose, die Tanz und Musik in ihren besten Hervorbringungen bewirken – „Vermählung“ nennt Neumeier sie. Die fast fünfstündige Demonstration dessen, was Ballett heute sein kann, mutet wie eine einzige große Confessio Neumeiers an und bekräftigt seine Ausnahmestellung als eine der intelligentesten und eloquentesten Persönlichkeiten der heutigen weltweiten Ballettszene. Hamburg kann sich glücklich schätzen, einen Mann von seiner künstlerischen Integrität unter seinen Ehrenbürgern zu wissen. Unbedingt zu empfehlen als Geschenk für jeden Ballettfan (und gerade auch für den, der sich einbildet, alles über diese faszinierende Kunstgattung zu wissen).

Und ebenfalls jetzt erschienen – als gälte es, ein besonderes Jubiläum der Kompanie zu feiern – dabei steht das erst in sechzehn Jahren bevor, wenn Neumeier 82 ist, das heißt etwa so alt wie Petipa bei seiner Pensionierung 1903 – die DVD-Version seiner bisher als Video-Aufzeichnung existierenden Wiener „Josephs Legende“ von 1977, mit Kevin Haigen, Judith Jamison, Franz Wilhelm und Karl Musil in den Hauptrollen, dirigiert von Heinrich Hollreiser, mit den Wiener Philharmonikern und dem Wiener Staatsopernballett (Deutsche Grammophon 00440, 65 Minuten). Das war also Neumeiers erste Produktion des Richard-Strauss-Spektakels von 1914, damals noch vom magischen Realisten Ernst Fuchs ausgestattet. Inzwischen hat Neumeier die Dramaturgie und die Ausstattung für seine Hamburger Neuproduktion ein bisschen verschlankt, aber die Musik überflutet die Szene mit ihrem Fin-de-siècle-Plüsch – und die Erscheinung des Engels ist auch nicht gerade dazu angetan, das Ballett aus seiner Zuckerwatten-Verpackung zu erlösen. Doch was für Tänzer waren das damals: der gerade dreiundzwanzigjährige Kevin Haigen, die zehn Jahre ältere Judith Jamison! Was war das damals für eine Aufbruchsstimmung beim Wiener Ballett in Gerhard Brunners erster Spielzeit als Staatsopern-Ballettchef! Und heute, dreißig Jahre später? Nichts als pure K.u.k.-Nostalgie! Schon mal was gehört, außerhalb Wiens, von den Ersten Solistinnen des Hauses, die in der Spielzeit 2008/09 Kathrin Czerny, Olga Esina, Aliya Tanikpaeva, Irina Tsymbal und Maria Yakovleva heißen?

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