Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
John Neumeiers „Othello“ beim Stuttgarter Ballett
Schier endlos ist die Liste der Shakespeare-inspirierten Ballette seit Eusebios „Romeo und Julia“ 1785 in Venedig. Ballettgeschichte haben indessen nur wenige gemacht. „Othello“ von Salvatore Viganò, 1818 in Mailand uraufgeführt, hat es immerhin durch Stendhal zu einigem literarischen Ruhm gebracht. Danach eigentlich nur noch Tschabukiani 1957 in Tiflis. Doch wer erinnert sich heute schon noch an Erika Hankas und Boris Blachers „Mohr von Venedig“, der 1956 in der Berliner Inszenierung von Tatjana Gsovsky (mit Gert Reinholm und Gisela Deege) den jungen Jean-Pierre Ponnelle als Bühnenbildner in den Weltruhm katapultierte (und in den folgenden Jahren auf vielen deutschen Bühnen nachgespielt wurde)?
John Neumeier, Shakespeareerfahren wie keiner seiner Kollegen, hat der Othello-Stoff praktisch sein ganzes schöpferisches Leben verfolgt, und so hat er gleich zu Beginn seiner Hamburger Tätigkeit ein „Othello“-Ballett bei dem seit seinen „Folterungen der Beatrice Cenci“ für Gerhard Bohner bekannten amerikanischen Komponisten Gerald Humel in Auftrag gegeben. Doch dessen Vertonung überzeugte ihn nicht (und so gelangte sie erst 1984 in Aachen zur Uraufführung, choreografiert von Günther Pick). Als dann Neumeiers Hamburger Intendant (und künstlerischer Ziehvater) August Everding Chef der Bayerischen Staatsoper wurde, hat er seine erste Opernproduktion 1977 in München von Neumeier inszenieren lassen: „Otello“ von Giuseppe Verdi (Dirigent: Carlos Kleiber, Ausstattung: Jürgen Rose).
Es vergingen weitere acht Jahre, ehe Neumeier seinen „Othello“-Balletttraum verwirklichte: 1985 – außer Haus, sozusagen eine Werkstatt-Produktion in der Hamburger Kampnagelfabrik (mit der Idealbesetzung von Gamal Gouda, Gigi Hyatt und Max Midinet), für die er sich die Musik als einen Mix aus Naná Vasconcelos (einem brasilianischen Allround-Komponisten), Arvo Pärt und Alfred Schnittke selbst zusammenstellte – eine ausgesprochene Autoren-Kreation, für die er nicht nur als Choreograf, sondern auch für die Inszenierung, das Bühnenbild, die Kostüme und das Beleuchtungskonzept verantwortlich zeichnete. Im vorigen Monat an ihrem Uraufführungsort in stark überarbeiteter Form wiederaufgenommen, hat er sie jetzt auf das Stuttgarter Ballett übertragen, zum einhelligen Jubel des Premierenpublikums – das erste Mal überhaupt, dass er eine seiner Hamburger Kreationen nach Stuttgart vergeben hat (bisher war's ja eher umgekehrt: siehe „Die Kameliendame“ und „Endstation Sehnsucht“).
Dabei dürften sich einige der Stuttgarter die Augen gerieben haben, denn was sie zu sehen bekamen, war weit von dem entfernt, womit er in Stuttgart seinerzeit debütiert hat: ein Shakespeare-Ballett, so ungestüm, wild und atavistisch, wie es nicht einmal Pina Bausch und Johann Kresnik in ihren „Macbeth“-Versionen gewagt haben . Von venezianischer Dogen-Kultur und zypriotischem Sonnenglast auch nicht die Spur, sondern ein Trip in die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele, „über die Unmöglichkeit, einen anderen Menschen wirklich zu kennen“. Das braust wie ein Orkan über die Stuttgarter Bühne – und in dessen Auge die unendlich zart aufblühende Liebe Othellos und Desdemonas, die dann doch vom Sturm der Leidenschaften zerfetzt wird, um ganz am Schluss wieder einzumünden, in die wunderbare Ruhe, die die Ruhe ihres Todes ist.
Das beginnt sogleich mit einem Aufruhr, wie wenn die Flüchtlinge von Darfur sich gewaltsam Zutritt zum Marcusplatz verschafft hätten. Wie denn überhaupt das Afrikanische in dieser Inszenierung immer wieder durchbricht (wie wenn der in der Stuttgarter Oper grassierende Schamanenvirus – siehe „Carmen“, „Trojaner“, „Lucio Silla“, „Fliegender Holländer“ – nun auch das Ballett angesteckt hätte). Aber es sorgt eben auch für die ungeheuerliche Kraft, die in dieser Inszenierung steckt. Nie hat Neumeier sich so weit vom klassischen Kanon entfernt wie in diesem „Othello“, was er in dieser Beziehung besonders seinen Darstellern des Jago und der Emilia zumutet, erschließt ihnen die Entdeckung ganz neuartiger expressiver Möglichkeiten, die man ihnen nie zugetraut hätte, so dass man zweimal hinsieht: ist das noch der gleiche Marijn Rademaker und vor allem ist das noch die gleiche Sue Jin Kang, die man zu kennen glaubte? Ihre beiden Rollenporträts insbesondere sind von einer psychologischen Differenziertheit, von der sich mancher Schauspieler eine Scheibe abschneiden könnte.
Über sich hinausgewachsen ist auch Jason Reilly, der sich als Othello von einer so anrührenden Zärtlichkeit zeigt, dass man sie unmöglich nur für die Oberfläche seiner dahinter lauernden elementaren Animalität halten kann. Gegenüber ihm und dem Paar Jago und Emilia (nie ist mir auf der Opernbühne eine Emilia von so exemplarischer Ausdrucksbreite begegnet wie Sue Jin Kang) nimmt sich Katja Wünsche als Desdemona relativ eindimensional aus – sie muss erst noch in die Rolle hineinwachsen (dass sie dazu in der Lage ist, hat sie in Bigonzettis „I fratelli“ bewiesen). Markant profiliert auch der Brabantio von Douglas Lee – eher fade Alexander Jones als Cassio. Fulminant die Stuttgarter Männer, ob nun als afrikanische Krieger, venezianische Soldateska, Moriskentänzer oder Renaissance-Kavaliere. Wenn Neumeier die einzelnen Charaktere als ein choreografischer Sigmund Freud hinterfragt und sich dazu der Zeitlupe bedient – wie etwa in der endlos sich hinziehenden Todesszene – kann man sich manchmal nicht erwehren und fragt sich, ob er die Tänzer und das Publikum nicht doch überfordert. In solchen Augenblicken sehnt man sich nach der strengen Konzentration (und Kürze) der einzigen Adaption des Othellos-Stoffes zurück, die es geschafft hat, Teil des „tänzerischen Weltkulturerbes“ zu werden: José Limóns „The Moor's Pavane“.
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