Jonglieren zwischen theatralem Ballett-Expressionismus und postmoderner speediger Ballett-Klassik

Roberto Campanella choreografiert „Alice im Wunderland“

Augsburg, 27/10/2008

Ein Ballett für Kinder, das gab es früher meist nur einmal im Jahr – zu Weihnachten. Royston Maldooms Jugendtanzprojekt „Rhythm is it“ hat da in den letzten Jahren ein neues, breiteres Bewusstsein geschaffen. Die Schulen, sichtlich sensibilisiert, richten Tanzworkshops ein. Und die Theater integrieren letzthin verstärkt Tanzprogramme für Kinder in ihr Repertoire. Werben mit Produktionen für die ganze Familie. Gerade hatte am Münchner Gärtnerplatztheater „Der kleine Prinz“ für Zuschauer ab 5 Jahren Premiere. An diesem Wochenende folgte das Ballett Augsburg mit der Premiere „Alice im Wunderland“ nach Lewis Carrolls weltberühmtem Kinderbuch (1865).

Durch die 1886 entstandene Bühnenfassung wurde die Geschichte der kleinen Alice, die in eine phantastische Traumwelt gerät, unzählige Male auf der Schauspielbühne aufgeführt, eroberte als Walt-Disney-Zeichentrickfilm in den 50er Jahren das Kinopublikum und wurde – bereits ab 1906 – auch immer wieder vertanzt. Augsburgs Ballettchef Robert Conn, der selbst nicht choreografiert, hatte jetzt eine ganz besondere Idee. Er brachte seinen Gastchoreografen Roberto Campanella mit der Augsburger Puppenkiste zusammen. Der kanadische Komponist Rick Hyslop stellte sich auf Tänzer und Marionetten ein. Das ist der erste erfreuliche Eindruck: Hier hat ein Komponist auf die Geschichte zukomponiert. Das leicht Abseitige, die verzwickte Traumwelt, in der Alice ihre Identität erprobt, ist in dieser Musik drin – in der gleichsam gedehnten, verschrägten Harmonik, in diesen Klangnuancen, die allen möglichen Instrumenten, auch mal Kinderspielzeugen entlockt sind. Das Ticken, Klingeln und Rattern holt so auch akustisch das im Märchen abgehandelte Thema Zeit ein. Aber auch Klezmer-, Tango- und Jazz-Anklänge fahren den verrückten Traumfiguren in die Beine, die hier, eng an der Vorlage, auftanzen: der Hutmacher, der Frosch, die Gärtner und diverse Hasen, Mäuse und Flamingos – alle sehr hübsch, aber nie verniedlichend tierhaft kostümiert.

Wer das Buch und die Illustrationen kennt, kann der Balletthandlung leicht folgen. Choreograf Roberto Campanella, klug auf kindliches Publikum eingestellt, beginnt mit einer Puppenspiel-Szene. In einer Winz-Wohnung tänzelt die Alice-Marionette auf Spitzenschuh, während sie mit ihrem kleinen Freund, dem weißen Kaninchen, übers Großwerden und Großsein redet. Und schon schwebt von oben, als falle sie durch Carrolls langen Schacht, die Live-Alice Ceren Yavan herab. Zwischen ihren getanzten Passagen mit dem eilig umherflitzenden Live-Kaninchen, mit der trägen Raupe oder auf der Flucht vor der Karten-Königin und ihrem Henker begegnet Alice noch ein paar anderen Marionetten. Sehr schön gelungen sind die Szenen mit der Herzogin, einer hinreißend hässlichen Handpuppe. An ihrem Mini-Herd schwingt sie vehement den Kochlöffel, salzt und pfeffert mächtig und wirft der mitfühlenden Alice das schreiende Schweinebaby zu. Am Ende winkt sie um Hilfe aus ihrem Käfig, aus dem Alice sie schließlich befreit. Ein solches Zusammenspiel von Puppen und Tänzern hätte man sich öfter gewünscht. Das aber war wohl eine Frage der verfügbaren Probenzeit, also eine Kostenfrage. Auch den Szenen mit Schülern aus Augsburger Ballettschulen hätte mehr Zeit, sprich mehr Formgebung gut getan.

Dennoch: Choreograf Roberto Campanella, keineswegs ein Newcomer, aber hier zum ersten Mal Schöpfer eines Handlungsballetts, hat insgesamt gesehen den richtigen Zugang zu diesem nicht gerade leichten Stoff gefunden. Es kommt ja nie zu einer wirklichen Verständigung zwischen der vernünftig denkenden Alice und all diesen in ihren eigenen Denkwelten argumentierenden Tier- und Kartenspiel-Wesen. Carrolls spielerische Verrätselung von Sprache und Logik, das Zusammenbrechen von gewohnten Ordnungssystemen, das in Tanz umzusetzen ist äußerst schwierig. Aber etwas von dem spielerischen Charakter der Vorlage, etwas von dem Traumhaften, dem Grotesken und Absurden hat Campanella eingefangen, und zwar in seinen, aus dem klassischen Ballett heraus entwickelten bizarr verdrehten Bewegungen, in seinen kantig-spitzigen Gesten. Campanella ist kein Modern-Dance-Choreograf mit einer in sich geschlossenen Tanzsprache – was hier ein Vorteil ist. Er kann frei jonglieren zwischen einem theatralen Ballett-Expressionismus, wie man ihn aus den 50er Jahren kennt, und einer von William Forsythe initiierten postmodernen speedigen Ballett-Klassik, die auch dem Zeit- und Bewegungsgefühl des heutigen Zuschauers entspricht.

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