Köstliche Klamotte und unerfüllte Elegie

Arthaus Musik lässt Jirí Kyliáns „Car Men“ durch den Tagebaustaub purzeln

Berlin, 08/05/2008

Wer meint, Jirí Kylián sei „nur“ der versonnen ernsthafte Aufspürer zwischenmenschlicher Seelenschattierungen, der sieht sich in der neuen Edition von Arthaus Musik aufs angenehmste getäuscht. „Car Men“ enthält die Aufzeichnung von drei seiner Ballette fürs Nederlands Dans Theater, zwischen deren Entstehung knapp zwei Dezennien intensiver Arbeit und noch mehr persönliche Lebenserfahrung liegen. Den Einstieg in die DVD bildet eine höchst originelle „Carmen“-Version von 2006, die einen ungewohnt heiteren Kylián zeigt. Denn er zerlegt den Namen jener spanischen Femme fatal wortspielerisch in Car Men und umreißt damit doppelbödig das autohörige Milieu seiner Version. Durch eine Staubwüste wieseln in rasendem Tempo vier Personen und treiben wie im Wettkampf Räder vor sich her. Ein Auto rollt heran, überfährt Carmen - deren zerbröselnder Leichnam putzmunter aufersteht. Nur der Körperabdruck markiert sich noch im Feinstaub.

So grotesk lassen Kylián und der holländische Filmemacher Boris Paval Conen ihren durchgängig schwarzweiß gedrehten Streifen beginnen. Surreal setzt er sich fort. Gähnend liegen die Vier am Rand eines stillgelegten Kohlentagebaus über ausgedientem Autoschrott. Eine boshaft verursachte Schmutzlawine löst eine wütende Verfolgungsjagd aus, die Han Otten in seiner comichaften Toncollage mit reichlich Lautmalerei, später mit technisch verfremdeten Zitaten aus Bizets Oper unterlegt. Auch sonst ist der Streifen mit seiner Zeitraffung und dem überzogenen Getue eine hinreißend hintergründige Hommage an die selige Stummfilmära. Carmen wird inmitten all des getürmten Karossenmülls zur tückisch tändelnden Rädelsführerin, die einen José von Buster-Keaton-Traurigkeit, den windig abgerissenen Escamillo und eine vorwurfsvoll mürrische Micaela mit Rotkreuztasche in Schach hält, gar aufeinanderhetzt.

Alle guten Zutaten des Slapsticks feiern fröhliche Wiedergeburt - freilich in Kyliáns punktgenau treffsicherer Choreografie, die noch im Ungetüm den Menschen enthüllt. Es wird geeifert, geprügelt, gebalzt, Spiralen schnellen bei Carmens Anblick wie Penisse in die Höhe, das Auto mutiert zum fauchenden Stier, bis es explodiert. Carmen befragt als Müllhalden-Giselle das Blumenorakel, den abgerissenen Blütenblättern stolpert José verzweifelt nach, walzt mit einer abenteurlichen Schrottkiste die Widerspenstige platt. Ihr elegantes Double hat da längst einen schnittigen Flitzer nebst Mannsbild geangelt und entweicht souverän dem Staubidyll. Sabine Kupferberg als hämische Carmen, Gioconda Barbuto als stirnfaltige Micaela, David Krügel als draufgängerischer Escamillo, Karel Hruska als dauerdepperter José sind begnadete Erzkomödianten, deren Mimik und Gestik diese „Car Men“, auch dank rasanter Schnitttechnik, zu einer Köstlichkeit der Sonderklasse adeln.

Kupferberg darf sich dann in ihrem Solo „Silent Cries“ vor einer schlierigen Glasscheibe selbst begegnen. Es ist dies zur Musik von Debussys „Prélude à l’après-midi d’un faune“ zwar der Monolog einer Frau schlechthin, deutbar indes auch als die Studie der vibrierenden Selbstverliebtheit einer Tänzerin angesichts ihres Spiegelbilds im Ballettsaal. Dass der Zuschauer sie dabei wie durch den Spiegel hindurch beobachten kann, ist Kyliáns genialer Trick. Kupferbergs geschmeidiger Knabenkörper schmiegt und presst sich lustvoll dem Glas an, ertastet die eigene Proportion. Kurz befreit sie sich aus der Gefangenschaft - um das gläserne Objekt ihrer Begierde zu begatten und dann rasch in die freiwillige Fron ihres narzisstischen Kerkers zurückzukehren.

Die Viererkonstellation des Anfangs greift Kylián in „La Cathédrale engloutie“ nach der gleichnamigen Klavierkomposition von Debussy wieder auf, diesmal jedoch ohne jeden Akzent von Heiterkeit. Wie die Glockenschläge jener versunkenen Kathedrale tauchen unter Meeresrauschen vier Menschen auf, die in einem Karree aus Pfählen ihre wechselseitigen Beziehungen ausleben. Die beiden Paare scheinen in gefügten Verhältnissen, erkennen aber im Sturmgebraus bald, welcher Emotionsorkan in ihnen tobt. Heftige Gefühle entdecken in akrobatisch lotenden Balancen und bis zur Erfüllung die beiden Männer füreinander, und auch die Frauen erspüren sich in schmiegender Weiblichkeit. Doch der Wind führt die alten Paarungen erneut zusammen, als rangiere gehorchende gesellschaftliche Ordnung über individueller Sehnsucht.

Mit einem Doppelduett endet die sublime Gefühlsrecherche: die Männer stehen, die Frauen hocken, aller Blicke senken sich. So sparsam und prägnant modelliert Kylián mit seiner Formsprache aus klassischer Basis und eigener Erfindung, so sinnfällig fließt sein Tanz, als sei er im Moment geboren - ein Meisterwerk. Jeanne Solan und Karen Tims in ihren Ausdruckstanzkleidern, Nils Christe und Eric McCullough in Hose und Hemdbluse sind in ihrer Zurückhaltung, der Präzision ihrer Bewegung ideale Interpreten einer Aufzeichnung, die Kyliáns schönheitstrunkene Elegie vorzüglich ins Bild rückt.

Arthaus Musik, Jirí Kylián’s „Car Men“, 29,90

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