Crankos Erbe
Das Stuttgarter Ballett trauert um Dieter Graefe
„Höhepunkte“ hätte das Programm ursprünglich heißen sollen. Gestreamt, nennt es sich jetzt „Angels and Demons“ und das nicht ohne Grund: um den „Boléro“ von Maurice Béjart verkürzt, fehlt das erhoffte Highlight des Abends. Aussagekräftig ist er auch so und schlüssig obendrein: Am Ende legen sich die „Falling Angels“ Jirí Kyliáns in die Lichtfelder, als wären’s Gräber, in die sich die acht Tänzerinnen versenken. „Petite Mort“ deutet bereits im Titel an, dass keine Lust von Dauer ist, und „Le Jeune Homme et La Mort“ handelt von nichts anderem als dem Tod und das auf eine drastische Weise wie sonst kaum einmal im Ballett.
Ein eher düsterer Abend, passend in diese triste Jahreszeit, und zugleich ein Lichtblick, was das Stuttgarter Ballett betrifft. Denn auch ohne die gewohnte Auftrittsmöglichkeit ist es mit einer Premiere präsent und das vor zahlreichen Zuschauern, die bei der Erstausstrahlung mühelos das Große Haus gefüllt hätten und doch wo ganz anders vor dem Bildschirm saßen: als wollte man Zeichen des Zusammenhalts setzen und im Tanz allen Widrigkeiten trotzen. Von denen gibt es ja derzeit genug.
Die „Falling Angels“ geben sich jedenfalls wehrhaft, auch wenn sie nicht über die Waffen verfügen, mit denen die Männer im anschließenden Ballett ihre Mannbarkeit beweisen. Amazonen gleich, treten sie aus dem Dunkel der Bühne heraus, eine Phalanx, die einem nicht das Fürchten lehrt, sondern die Freude an der Bewegung. Anders als Anne Teresa De Keersmaeker nimmt Kylián „Drumming: Part 1“ von Steve Reich nicht als Vorlage eines choreografischen Kalküls. Er findet für seine Studie über das spannungsvolle Verhältnis von Disziplin und Freiheit vielmehr eine Form, die nie als Selbstzweck wirkt, sondern als Ausdruck eines menschlichen Bedürfnisses. Man sieht – und das macht die Kameraführung von Dora Detrich wirklich sichtbar –, mit welcher Freude Angelina Zuccarini, Jessica Fyfe, Veronika Verterich und all die anderen aus der vorgegebenen Struktur ausbrechen. Der Human Touch wird von ihnen stets gewahrt und eine revuehafte Heiterkeit, die die Unerbittlichkeit des Bewegungskonzepts immer wieder lockert.
Das ist auch bei „Petite Mort“ nichts anders, der sich ohne Pause an die „Falling Angels“ anschließt. Hier sind es sechs Tänzer, die durchaus symbolkräftig mit ihren Degen spielen, als wären’s Instrumente ihrer Lust: ein zweischneidiges Ritual, herausgepeitscht aus der Bühnenstille, und gleichzeitig ein willkommenes Exercice für den intimsten Moment, den Kylián wenig später sozusagen unter einer Bettdecke hervorzaubert. Zum überirdisch schönen Adagio aus Mozarts Klavierkonzert in A-Dur, das schon Angelin Preljocaj in „Le Parc“ zu einem nicht enden wollenden Kuss inspiriert hat, wie auch zum Andante des C-Dur-Klavierkonzerts inszeniert er Ekstase eines „kleinen Todes“, der sich die sechs Paare (unter ihnen Elisa Badenes und Jason Reilly) formbewusst hingeben. Erfreulich, dass nun auch die Stuttgarter nun endlich über die Choreografie aus dem Jahr 1991 verfügen. Ihre Sinnlichkeit lässt sich sicher noch weiter sublimieren.
Ähnliches lässt sich auch über „Le Jeune Homme et la Mort“ sagen. 1946 hat Roland Petit das existenzialistische Duo choreografiert, ein Klassiker auch insofern, als es als einziges Ballett des Abends auch den Spitzenschuh als Ausdrucksmittel bemüht. Gezeigt wird die Geschichte eines jungen Mannes, dessen letztes Stündchen geschlagen hat - auch deshalb immer wieder der Griff zur Zigarette und der verzweifelte Blick auf die Armbanduhr. Der Tod ist hier aber nicht ein Meister aus Deutschland, sondern Madame La Mort, die sich ihr Gegenüber nicht unerotisch zur Brust nimmt. Hyo-Jung Kang verkörpert sie verführerisch, eine Sphinx, selbst wenn sie lächelt. Kein Wunder, wenn sich Ciro Ernesto Mansilla nicht unbedingt wohl fühlt in seiner Haut. Er tanzt tapfer. Um dieses Kultwerk zum Kult zu machen, braucht es aber mehr: beispielsweise die Anziehungskraft eines Jean Babilée, der diese Rolle bis ins hohe Alter auf so unvergessliche, unvergleichliche Weise verkörpert hat. Er braucht vor allem Aufführungen auf der Bühne; nur dort kann die Entgrenzung wirklich funktionieren, wenn der Zuschauerblick am Ende über die Dächer von Paris schweift.
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