Angst vor starken Frauen

Der Glanz ist ab – noch eine mittelprächtige Spielzeit beim Stuttgarter Ballett

Stuttgart, 20/08/2008

Wieder gab es in der vergangenen Spielzeit spannende, ja atemberaubende Aufführungen beim Stuttgarter Ballett. Christian Spucks „Lulu“ und John Neumeiers „Othello“ etwa wurden bis in die zweite oder dritte Besetzung großartig interpretiert. Wann immer die Stuttgarter Tänzer schauspielern können, wann immer man ihnen dramatische Rollen gibt, dann ist alles gut. Bei der hehren Klassik aber wackelt es gewaltig. Die „Schwanensee“-Serie im Herbst war so deprimierend wie die „Dornröschen“-Wiederaufnahme im Juni, selbst John Crankos „Initialien R.B.M.E“ wirkten schlecht einstudiert und wurden erst gegen Ende der Vorstellungsserie so getanzt, wie es ihnen in Crankos Heimatkompanie gebührt. Das Repertoire wird immer kleiner, die Qualität schwankt ganz bedenklich - was ist los beim Stuttgarter Ballett?

Nach wie vor sind die männlichen Solisten der Stolz der Kompanie. Sogar in der internationalen Tanzmetropole London ist man nachhaltig auf sie aufmerksam geworden, Friedemann Vogel und Jason Reilly gastieren dort regelmäßig. Neben Marijn Rademaker, Filip Barankiewicz und Alexander Zaitsev lässt sich die Liste endlos fortsetzen – Evan McKie in „Dornröschen“, Alexis Oliveira als Othello, Alexander Jones oder William Moore sind Jungstars auf dem Weg nach oben. Während Stuttgart also auf eines der besten männlichen Solisten-Ensembles in ganz Europa stolz sein darf, möchte man bei den berühmten Virtuosenkunststücken von Dornröschen oder Odette/Odile manchmal am liebsten die Augen schließen. Den jungen Stuttgarter Ballerinen fehlt es schlichtweg an Technik, um auf internationalem Niveau mithalten zu können, vom Glanz einer Polina Semionova in Berlin ist man hier so weit entfernt wie Stuttgart von der Hauptstadt.

Mancher Zuschauer staunte nicht schlecht, sogar in Birgit Keils Karlsruher Ballett eine Primaballerina anzutreffen, die sicherer stand und eleganter drehte als die aktuellen Stuttgarter Dornröschen. Was die technische Qualität der Damen betrifft, so ist Vladimir Malakhovs Berliner Staatsballett mit seinen hervorragenden Solistinnen schon lange an Stuttgart vorbeigezogen. Wenn Maria Eichwald und Elena Tentschikowa ausfallen (und die Verletzungsrate ist im Stuttgarter Ballett weiterhin bedenklich hoch), dann kann Ballettintendant Reid Anderson die großen Petipa- oder Bournonville-Klassiker nicht mehr adäquat besetzen, darüber können all die Auszeichnungen und Preise für Katja Wünsche oder Alicia Amatriain nicht hinwegtäuschen. Beide sind moderne Ballerinen – nur bekommen sie die entsprechenden Werke von Forsythe, McGregor, Duato oder Ek, in denen sie brillieren könnten, hier nicht zu tanzen.

Seit Anderson damals so große Probleme mit der zickigen Margaret Illmann hatte, scheint er Angst vor starken Frauen zu haben - wie anders ist die Ernennung einer derart farblosen, unmusikalischen Ersten Solistin wie Anna Osadcenko zu erklären? Vielversprechende Talente wie Hyo-Jung Kang, Angelina Zuccarini oder Rachele Buriassi warten viel zu lange auf ihre Chance.

Auch eine weitere Personalie stimmt ratlos: Administrativdirektorin Ingrid Bruy musste sich nach 37 verdienstvollen Jahren ohne ein öffentliches Danke, ohne eine ihr gewidmete Vorstellung verabschieden; Anderson selbst dagegen lässt sich nächstes Jahr zum 60. Geburtstag mit einer Gala feiern.

Noch vor zwei Jahren galt Stuttgart als wegweisendes Zentrum des modernen Balletts. In der nächsten Spielzeit aber stehen im Opernhaus fast nur noch klassische Handlungsballette auf dem Plan, die abstrakten Klassiker der Moderne wie Jiří Kylián und Hans van Manen, früher feste Säulen des Repertoires, sind praktisch völlig weggebrochen. Die berühmte Pluralität der Stile, auf die schon John Cranko stolz war, sie droht verloren zu gehen. Auch die Auswahl der Uraufführungen gibt zu denken – wie konnte Eric Gauthiers unsägliche „Eclipse“ ins Programm des Stuttgarter Balletts gelangen, warum bekommen nicht stattdessen die jungen Choreografen Demis Volpi und Bridget Breiner, deren Talent längst evident ist, eine Chance bei der Kompanie – auch nicht im nächsten Jahr?

Die Sternstunden der vergangenen Spielzeit fanden nicht im Staatstheater statt, es waren die „ausgelagerten“ Koproduktionen: Christian Spucks „Don Q.“ im Theaterhaus, Bridget Breiners „Zeitsprünge“ im Kunstmuseum. Beim großen Cranko-Festival im Herbst erledigte der eigens engagierte Projektmanager Thorsten Kreissig seinen Job offensichtlich so kompetent, dass er zu Beginn der Festivitäten schon wieder verschwunden war. Außer einem wirren Mitmach-Videoclip hinterließ er nicht viel: Zu Crankos 80. Geburtstag gab es kein wissenschaftliches Begleitprogramm, keine umfassende Ausstellung, keine Gespräche mit Zeitzeugen. Selbst die große Gala war nicht so interessant wie die Cranko-Gala des Bayerischen Staatsballetts, dafür kosteten die Karten dreimal so viel.

Neben den nochmals teurer gewordenen Eintrittspreisen (für Ballettabende liegen sie in Stuttgart höher als in Paris oder London) stimmt auch eine gewisse Respektlosigkeit gegenüber dem Stuttgarter Publikum bedenklich. Manche Solisten wie zum Beispiel Jiří Jelinek werden zwar bei den prestigeträchtigen Gastspielen eingesetzt, in Stuttgart aber treten sie monatelang nicht auf. Kein Wunder, dass in fast allen Premieren Plätze oder gar Reihen frei blieben – die legendäre Neugier und Risikobereitschaft des Stuttgarter Publikums ist zurückgegangen, die Zuschauer kommen erst dann, wenn die Mundpropaganda funktioniert hat.

Die Publikums-Urschreie und die Aufbruchsstimmung sind innerstädtisch umgezogen. Im Theaterhaus zeigt Gauthier Dance das Gegenprogramm zu den choreografischen Eigenbrötlern, die das Stuttgarter Ballett derzeit nährt: Tanz, der Spaß macht, eine gute Mischung aus schwierigen und leichten Stücken zum erschwinglichen Preis. Für das Stuttgarter Ballett wurde in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl an wegweisenden, berührenden, originellen Stücken geschaffen – es schmerzt, dieses großartige, reichhaltige Repertoire immer mehr vernachlässigt zu sehen. Was den Spielplan und die Solistinnen angeht, befindet sich die berühmte Kompanie auf dem traurigen Weg zum Mittelmaß.

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