Halbzeit bei Dance 2008
Glanzpunkte und schräge Tanz-Experimente
Drogen und Folter beim Gastspiel der Compañia Nacional de Danza
Dieses Gastspiel der Compañia Nacional de Danza beim Bayerischen Staatsballett brachte mit zwei Stücken Nacho Duatos die Möglichkeiten zum Tragen, die Bettina Wagner-Bergelt dank ihrer Doppelfunktion als Stellvertretende Direktorin des Staatsballetts und künstlerische Leiterin des diesjährigen DANCE-Festivals hat. Im ausverkauften Münchner Prinzregententheater zeigten die Gäste aus Madrid genau das, was ihr wichtig ist: Wie Tanz, über sich hinausweisend, mit einer exquisiten Ästhetik aktuelle gesellschaftliche Probleme vital ins Bewusstsein heben kann.
„White Darkness“ aus dem Jahr 2001 ist das Ergebnis einer langen Beschäftigung des Chefchoreografen der Spanier mit dem Thema Drogen. Gleich anfangs rieselt auf ein Paar weißes Pulver so fein herab, dass damit Kokain gemeint sein muss. Die Bewegungen des Paars fließen langsam und sind bedeutungsvoll akzentuiert. Zwei weitere Paare entfalten mehr Charakteristisches aus Nacho Duatos reichem Vokabular: Das eine die Beschleunigung zu glutvoller Dynamik, sehr exakt und aussagestark, das andere mit schleifenden Füßen spannende Verzögerungen oder hochbeinig ausfahrende Dramatik. Als Quartett tanzten sie so präzise und synchron, dass man sich der hochkarätigen Ausführung durch dieses Ensemble früh gewiss sein konnte.
Rhythmisch pulsierend fließt alles stets klar, wenn auch oft effektvoll gegenstrebig, mit der Musik. Unter allen, die Duatos Stil beeinflusst haben, grüßte Jiří Kylián am stärksten. Man empfindet „White Darkness“ als weniger abstrakt, als es in Wahrheit ist: In einen Kreis von zwei Paaren rieselt „Schnee“. Dahin zieht es eine Tänzerin, sie wird zurückgezogen, verliert aber nie ihre Affinität zu dem, was da liegt. Die Duette der fünf Paare sind in ihrer komplizierten Rasanz bewundernswert. Die Partner eilen vorwärts, sträuben sich, geraten in Hektik, tun neue Quellen auf. Trotz repetitiver Prägung der Minimal Music von Karl Jenkins drängt „die Handlung“ voran: Eine neue Linie „Schnee“ führt zur Bühnenmitte, der Mann, der ihn aus der Hand rieseln lässt, kreist sich selber damit ein. Alles fließt spontan aus der Musik, doch dauernd spielt dieses Pulver eine Rolle: Ein Oktett wird dadurch initiiert, Bezüge zwischen Partnern wechseln schnell, einzelne tanzen isoliert in Lichtquadraten, in denen jeder seinen Zustand zeigt. Zum vorläufigen Finale treten alle an, doch es folgt ein letzter Pas de deux, kontinuierlich fließende Bilder emotionalen Ausdrucks zeigend: Mann hält Frau fest, man kann Abwendung, Erstarrung, Neubeginn assoziieren, sieht großformatige, mit gemäßigtem Pathos aufgeladene Figuren, ständig auch fremdes Getriebensein – bis er sie an einen „Wasserfall“ von Schnee verliert und sie darin hinsinkt, – in Joop Caboorts Licht ein großartiges Bild!
Auch eine Auseinandersetzung mit dem Thema Folter plante Nacho Duato schon seit Langem. In „Herrumbre“ („Rost“) aus dem Jahr 2004 erwartet bedrohliches Dröhnen die Zuschauer, eine graue, wandelbare Stahlkonstruktion mit Drahtzaun bestimmt das Bühnenbild, grelle Scheinwerfer blenden, Schüsse knallen, am Boden zucken verendende Körper. Strukturiert ist dieses Stück durch das Handeln martialischer Gestalten einerseits, andererseits durch das Leiden der Folteropfer und Bedrohten. Deren Fühlen ist mit den vollen Klängen des Cellos von David Darling unterlegt, das Handeln jener mit metallischen Soundcollagen von Pedro Alcalde und Sergio Caballero. Man sieht Bilder des Lager-Alltags in hilfloser Bedrängnis, Pas de deux panischer Angst, Momentaufnahmen des Getroffenwerdens und der indirekten Betroffenheit, vieles in atemberaubendem Tempo getanzt. In einem leidvollen Pas de deux finden Mann und Frau durch Counterbalancen, Spannung, Richtungswechsel, Entfernungen und Eruptionen angesichts des Unfassbaren nicht zusammen. In wiederholten Wechseln schieben sich dynamisch choreografierte Folterszenen dazwischen, zu Tönen wie von Knochenkrachen. Im Zuge dessen wird man als Zuschauer thematisch hart herangenommen, doch tänzerisch beglückt, weil man – auch beim Solo einer Frau, deren fließende Bewegungen in Posen der Verzweiflung münden – Duatos ungeheuren Reichtum an Bewegungen genießt. Auch die Macht der Mächtigen ist tänzerisch großartig umgesetzt. Aus einem Oktett der Folterer löst sich ein Trio, ergreift die Frau, deren Vergewaltigung nur angedeutet wird. Über zwei Paaren vergrößert die durch einen Helikopter rotierende Beleuchtung die Dimension grausamen Drohens, während die Betroffenen sich unten winden. Auch akustisch wird Schmerz erzeugt. Die Beklommenheit angesichts der Vergegenwärtigung von Realitäten, die man im Theater so lange ungebrochen zu sehen nicht erwartet, treibt Zuschauer zum Gehen. Durch die Stahlwand getrennt sieht man Frauen ihr Entsetzen und ihr Flehen um Erbarmen tanzen. Ihr Quintett schließt sich zum sakralen Unisono, ehe wieder jede einzeln tanzt. Auf der anderen Seite sind Männer die Betroffenen, in ihren Soli Elektroschocks verborgen.
Doch auch die Folterer sind Opfer, wie ihre mechanisierten Bewegungen und ihr abruptes Fallen verraten: Opfer einer Konditionierung, die sie zu Grausamkeiten gegen Mitmenschen befähigt, sie nämlich dazu abrichtet, in andern keine Menschen mehr zu sehen! Aufgrund dieser depravatio animi werden sie ihrer moralischen Verantwortung enthoben, sind ohne Verantwortung aber keine freien, eigentliche gar keine Menschen mehr. Nacho Duatos Appell, gegen Folter Stellung zu beziehen, endet mit einer stillen Szene, in der die Stahlwand ein Gräberfeld, Großgrabmal und Mahnmal wird. Frauen und Männer stellen Grablichter darauf. Die werden immer mehr, veranschaulichen die Unzahl der Toten des Regimes. Doch das ist nicht gottgewollt! Der Vorhang senkt sich auf ein Meer von roten Lichtern. – Die Compañia Nacional de Danca nahm statisch einen Applaus entgegen, der nur durch Beklommenheit vermindert war.
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