Paris im Balanchine- und Robbins-Fieber

Das NYCB in der Opéra Bastille und eine „Hommage an Jerome Robbins“ im Palais Garnier

Paris, 26/09/2008

Die Fans von Balanchine und Robbins hatten in den letzten Wochen in Paris die seltene Gelegenheit, gleich zwei der größten Ballettkompanien der Welt in den Choreografien der beiden Giganten des amerikanischen Tanzes des 20. Jahrhunderts bewundern zu können. Das 1948 von Balanchine und Lincoln Kirstein gegründete New York City Ballet, das auch Jerome Robbins erste Ballettheimat war, zeigte sich nach dreizehn Jahren erstmals wieder dem Pariser Publikum. Gleichzeitig eröffnete das Ballett der Pariser Oper seine Saison mit einer Hommage an den vor zehn Jahren verstorbenen Robbins, der die Kompanie als seine zweite Familie bezeichnete.

In den vier Programmen des New York City Ballet entdeckten die Pariser Zuschauer eine ganz andere Art, Balanchine und Robbins zu tanzen, als sie es von ihrer Truppe gewöhnt sind. Beide Kompanien gehören zu den weltbesten Interpreten des neoklassischen Repertoires, setzen aber unterschiedliche Akzente. Gerne hätte man einen noch breiteren Ausschnitt aus dem Stückevorrat der New Yorker gesehen, zum Beispiel die in Europa selten aufgeführten, humorvollen „amerikanischen“ Balanchine-Werke wie „Western Symphony“ oder „Stars and Stripes“, oder Robbins „Fancy Free“. Doch dafür gab es Balanchines pulsierende „Symphony in Three Movements“ sowie Robbins „West Side Story Suite“, zweifelsohne zwei Höhepunkte des Gastspiels – hier zeigte sich das Corps de Ballet energiesprühend, hochmusikalisch, athletisch und „jazzy“.

Diese Eigenschaften zeichnen die Kompanie auch in Stücken aus, in denen man sie in Europa weniger zu sehen gewohnt ist: So beispielweise im unter dem Namen „Theme and Variations“ bekannten letzten Teil von Balanchines „Tchaikovsky Suite No.3“. Dieses Schmuckstück wird in Kompanien außerhalb Amerikas wie dem Ballett der Pariser Oper oft mit höchster aristokratischer Eleganz getanzt, ähnlich wie „Diamonds“ aus „Jewels“, Balanchines schillernde Hommage an die St. Petersburger Balletttradition. Im New York City Ballet sieht man einen ganz anderen Stil: athletisch, cool, mit sichtbarer Freude an der Bewegung stellen die Tänzer einen direktem Kontakt zum Publikum her. Die ersten Solisten Megan Fairchild und Joaquin de Luz wirbelten blitzschnell, präzise und musikalisch auf den Punkt gebracht über die Bühne als ginge es darum, die olympischen Spiele des Tanzes zu gewinnen. Beeindruckend auch die Scissonnes des männlichen Corps de Ballet im Finale, die aufschnappten wie Taschenmesser. Zwar sieht man im Corps de Ballet nicht immer einwandfreie Linien und Formationen oder perfekte Synchronität, doch dafür fallen die Musikalität der Tänzer, ihr Sinn für Humor und fürs Dramatische selbst in abstrakten Werken auf.

Neben den Meistern Balanchine und Robbins stellten während des Gastspiels auch Ballettdirektor Peter Martins und Hauschoreograf Christopher Wheeldon ihre Werke dem Publikum vor. Von Martins überzeugte vor allem das nüchterne, dunkle, rapide „Hallelujah Junction“ zur Musik von John Adams, schnittig interpretiert von Janie Taylor, Gonzalo Garcia und Daniel Ulbricht; sein „Barber Violin Concerto“ mutete dagegen kitschig und unzeitgemäß an.

Wheeldon steuerte das trotz seiner Entstehung im Jahr 2002 schon leicht überholt wirkende „Carousel (A dance)“ bei (eine tragisch-süße Liebesgeschichte auf einem Jahrmarkt) sowie den spannenden, willentlich gequält wirkenden Pas de Deux „After the rain“ zur Musik von Arvo Pärt, mit Fingerspitzengefühl interpretiert von Wendy Whelan und Craig Hall.

Dennoch: die Schwergewichte des Repertoires stammen von Balanchine und Robbins, die hier getanzt werden wie nirgends sonst. In „Serenade“, Balanchines weltweit am häufigsten aufgeführtem Werk, konnte man zwei der derzeit exquisitesten Ballerinen der Kompanie bewundern, Maria Kowroski und Ashley Bouder. Letztere, ein aufsteigender Stern der Truppe, avancierte schon ab der ersten Vorstellung des Gastspiels im mit kniffligen Solistenvariationen gespickten „Divertimento No.15“ durch eine Kombination aus beeindruckender Technik und augenzwinkerndem Charme zum Publikumsliebling.

Ähnliche Begeisterung ernteten Megan Fairchild und Joaquin de Luz für ihre feuerwerksartige Interpretation von Balanchines „Tarantella“-Pas de Deux: Mit Leib und Seele warfen sich die beiden in die Choreografie und schienen sich ein Vergnügen daraus zu machen, inmitten einer atemberaubend schnellen Schrittkombination jeweils noch gelassener zu lächeln als der andere.

Ansonsten gab es noch „Brahms-Haendel“, eine Koproduktion zwischen Jerome Robbins und Twyla Tharp, sowie eines von Balanchines „Black and Whites“, das hierzulande weniger bekannte „Episodes“ aus dem Jahr 1959, ein intensiver Dialog zwischen minimalistischem Tanz und Musik von erstaunlicher Modernität. Der Symbiose von Tanz und Musik in seinen Werken errichtete Balanchine das deutlichste Denkmal mit dem Pas de Deux „Duo Concertant“. Zu Beginn und immer wieder während des Stücks hören die Tänzer den auf der Bühne postierten Musikern zu, bevor sie ihre Glieder Stravinskys Musik folgen lassen – zuerst präzise wie Metronome, dann weicher und mit größerer Freiheit. Dieser bis auf die letzte Sequenz abstrakte Pas de Deux wurde von Sterling Hyltin und Robert Fairchild mit berührender Sensibilität und Harmonie getanzt – jeder Schritt war wie eine zart aber deutlich gespielte Note in einer Partitur. Bereits vor der Schlussszene, einer in einem kleinen Scheinwerferlichtkreis inszenierten Liebeserklärung des Paares, spürt man in ihrem Tanz eine dramatische Dimension, die, ohne sich zu einer Handlung zu konkretisieren, aus dem Dialog mit der Musik entsteht.

Einige Stationen weiter westlich auf der Metrolinie 8, im prunkvollen Palais Garnier, feierte das Ballett der Pariser Oper seinen Saisonauftakt auf ganz spezielle Weise: mit dem jährlichen Défilé des Corps de Ballet, bei dem sich die ganze Kompanie von der dienstältesten Etoile (oder fast: Manuel Legris war an diesem Abend wegen eines Gastspiels in Japan absent) bis zum jüngsten Schüler der Ecole de Danse zum Marsch aus Berlioz' „Les Troyens“ dem Publikum präsentierten. Darauf folgte die Hommage an Robbins mit einer gelungenen Auswahl von Stücken des Meisters sowie einer Uraufführung des gebürtigen Franzosen und von Robbins stark geprägten NYCB-Tänzers Benjamin Millepied. Die Robbins-Referenzen in „Triade“ (Musik: Nico Muhly, Kostüme: Millepied) sind in der Tat zahlreich – der Anfang, ein recht verhuschtes Kommen und Gehen der vier Protagonisten (Marie-Agnès Gillot, Laetitia Pujol sowie die kurzfristig eingesprungenen Gruppentänzer Audric Bezard und Marc Moreau), erinnert vage an „Glass Pieces“, andere Passagen lassen an „Suite of Dances“ und „Dances at a Gathering“ denken (selbst das bei Robbins so beliebte Rad fehlt nicht). Hier werden einige Themen, die in „Dances at a Gathering“ angedeutet werden (in dem Millepied noch am Nachmittag der Uraufführung eine exzellente Vorstellung als Tänzer in Braun gab), konkretisiert: flüchtige Begegnungen, Verführung und Trennung, spielerische Rivalität. Auch Balanchine und Forsythe werden zitiert, es gibt Fouettés und Marie-Agnès Gillot fegt in einer Reihe von Grand jetés en manège mit gewaltiger Sprungkraft über die Bühne.

Wenn das Stück auch stellenweise vor allem ein dekorativer Remix ist, beginnt Millepied besonders im spannungsgeladenen Pas de Deux zwischen Marie-Agnès Gillot und Audric Bezard, eine originelle Handschrift zu entwickeln, gekennzeichnet unter anderem durch ein ständiges Kippen, Auf- und Wegklappen, Gleiten und Abbrechen. Interessant auch, wenn die Tänzer wie sich anziehende oder abstoßende Magneten um einander herumschwingen und –zirkulieren. Gerahmt wird die Uraufführung von Robbins humorvollem Ballett „In G Major“, in dem Marie-Agnès Gillot als Königin des Strandes inmitten einer fröhlichen Menge mit kühler, majestätischer Präzision ihre beeindruckend langen Glieder vor dem blassen Jüngling Florian Magnenet reckt, sowie von „In the Night“, Robbins nächtlichem Pendant zu „Dances at a Gathering“. Dieses Werk zu Chopin-Musik erzählt die Geschichte dreier Paare, die sich eines Nachts vor einem Sternenhimmel begegnen: Das erste Paar vermittelt ein Bild ungetrübter, inniger Zweisamkeit (Clairemarie Osta und Benjamin Pech), das zweite wirkt gesetzt und aristokratisch (Agnès Letestu und Stéphane Bullion), das dritte Paar, aufwühlend und berührend dargestellt von Aurélie Dupont und Nicolas Le Riche, wird von Stürmen der Leidenschaft hin- und hergerissen.

Der Abend schloss mit „The Concert“, einer 1956 uraufgeführten alterslosen Satire über die Phantasien von Konzertbesuchern. Robbins lässt die mehr oder weniger gebannt lauschenden Zuhörer eines Chopin-Klavierkonzerts – unter anderem eine eitle und überspannte Ballerina, eine resolute Ehefrau mit ihrem zigarrenrauchenden, zeitunglesenden und wenig fürsorglichen Ehemann, eine bebrillte Cholerikerin und einen schüchternen Studenten – in ihre Vorstellungswelt abgleiten, wobei er sich unter anderem durch die Titel von Chopins Werken („Schmetterlings-Etude“, „Regentropfen-Prélude“) inspirierte. Schließlich setzt die Pianistin (Vessela Pelovska) dem surrealen Treiben mit Hilfe eines riesigen Schmetterlingsnetzes höchstpersönlich ein Ende. Ein Stück, das ähnlich wie „West Side Story Suite“, mit dem das New York City Ballet am Tag darauf seine Pariser Saison beendete, seine Wirkung kaum verfehlen kann – mit diesen Schlussakkorden war dem Genie des Choreografen das deutlichste Denkmal gesetzt.

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