Pistolenschüsse und Magie des Geistes

Robert Tewsley als Korsar in Rom

Rom, 04/06/2008

Der Wind weht offensichtlich günstig für Piraten – ob es an gewissen Kinoerfolgen der letzten Jahre liegt? Tatsache ist, dass nach langjähriger Flaute innerhalb der letzten anderthalb Jahre gleich drei abendfüllende Versionen eines Balletts das Licht der Welt (oder eher die Scheinwerfer der Bühne) erblickten, das den meisten Ballettfreunden nur in der Form eines Galadivertissements ein Begriff ist: „Le Corsaire“. Zwar gibt es schon seit der Uraufführung des ersten vom gleichnamigen Gedicht Lord Byrons inspirierten Piratenballetts „Der Korsar“ an der Mailänder Scala im Jahr 1826 (Choreografie von Giovanni Galzerani) zahlreiche Versionen des Stückes, doch hat sich von diesen kaum eine im Repertoire der großen Ballettkompanien gehalten.

In Europa war das Handlungsballett lange von den Spielplänen verschwunden, bis im Januar 2007 Ivan Liška, Direktor des Bayerischen Staatsballetts, zusammen mit Doug Fullington und Maria Babanina eine abendfüllende Fassung des Balletts zur Aufführung brachte. Diese Version, die sich stark an Marius Petipas 1899 im Petersburger Mariinsky-Theater gezeigter letzter Fassung des „Corsaire“ orientierte, entstand nach ausführlicher Konsultation der verfügbaren choreografischen und musikalischen Quellen. Wenige Monate später wurde im Moskauer Bolschoi-Ballett eine weitere stark von den historischen Vorlagen inspirierte, von Alexei Ratmanski und Yuri Burlaka erarbeitete Version geboren. Viatcheslav Khomyakov, ehemaliger Assistent von Ratmanski sowie von Sergej Vikharev bei der Rekonstruktion von „Floras Erwachen“, wollte in Rom eine „komplett originelle“ Version schaffen, denn, so Khomyakov im Programmheft: „Wenn ich heute den Stil der Zeit Petipas wiederaufleben ließe – das bedeutet viel Pantomime und wenig Tanz – würde sich das Publikum zu Tode langweilen.“ Folgerichtig toleriert Khomyakov in seiner schlanken, dem modernen Zuschauergeschmack angepassten Version nur ein Minimum an Pantomime, was allerdings dem Stück einiges von seinem Charakter und auch von seiner Verständlichkeit nimmt. So bleibt beispielsweise von Medoras „Petit Corsaire“-Pantomime, in der sie augenzwinkernd das Piratenleben imitiert, in Rom nur eine einen Schnurrbart andeutende Handgeste übrig, die ohne Kontext jeglichen Sinn verliert.

Auch die Handlungszusammenfassung im Programmheft bot wenig Hilfe und widersprach teilweise sogar dem manchmal verwirrenden Geschehen auf der Bühne.
Die Frauenrollen des Stückes gaben ihren Interpretinnen wenig Gelegenheit zur schauspielerischen Charakterisierung, dafür aber umso mehr zur tänzerischen Entfaltung. Anastasia Lomachenkova als Gulnara und besonders Ekaterina Borchenko als Medora überzeugten durch ihre Variationen in lupenreiner Vaganova-Tradition, und Borchenkos majestätische Medora bildete ein harmonisches Paar mit Robert Tewsleys Konrad. Doch machen vor allem die ungewöhnlich prominenten und differenzierten Männerrollen die Besonderheit des Stückes aus, und diese waren an diesem Abend spannend besetzt. Ivan Popov gab einen Lankedem à la Ubu Roi: stets ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedacht und eher unendlich feige und geldgierig als wahrhaft schurkisch. Andrei Batalov war ein virtuoser Ali, der am Ende für seine Treue mit der Liebe Gulnaras belohnt wurde. Vito Mazzeo als Birbanto versprühte Lebensfreude und tanzte mit technischer Sicherheit und einer so deutlichen Zuneigung zu Konrad, dass sein Bruch mit diesem zunächst unwahrscheinlich erschien. Doch trifft ihn Konrads Enttäuschung über ihren anfangs harmlosen Streit derart tief, dass seine Liebe und Verehrung sich aus jugendlichem Trotz in Hass verwandelt – dadurch wird aus dem einfachen Interessenkonflikt eine subtile persönliche Tragödie.

Robert Tewsley als Konrad schließlich zeigte sich nicht nur in tänzerischer Hochform, indem er seine Variationen mit müheloser Eleganz überflog, sondern bewies gleichzeitig als sowohl kühner als auch nobler Titelheld durch neue schauspielerische Facetten seine Vielseitigkeit. Tewsleys Interpretation näherte sich dem Geist des englischen Romantikers, dessen Gedicht das Ballett inspirierte: So war sein Pirat ein leidenschaftlicher, mysteriöser „Byronic hero“, dessen Autorität trotz seiner Überlegenheit im Kampf weniger auf seiner physischen Stärke als auf seiner persönlichen Faszination beruht – diese definiert Byron in „The Corsair“ als „The power of Thought – the magic of the Mind!“

Insgesamt waren es vor allem die differenzierten und engagierten Darbietungen der Tänzer, die das Stück zu einem Vergnügen für die Zuschauer machten und sowohl die Längen (beispielsweise die exaltierten Tänze der Sklavinnen im ersten Akt), als auch gewisse unglückliche Entscheidungen in der Musikzusammenstellung weitgehend vergessen machten. Ansprechend waren auch das Bühnenbild und der in erfrischendem Grün gehaltene Jardin animé, in dem sich Corps de Ballet und Ballettschule mit Hingabe und zahllosen Rosengirlanden präsentierten – und nach dem man, den beschwingten Delibes-Walzer noch im Ohr, mit doppelter Freude in den ebenso blütenreichen römischen Frühling zurückkehrte.

 

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