Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
Eine Hommage an die unbeschwerte Jugend und seine Heimat Amerika ist John Neumeiers Stück „Yondering“, entstanden 1996 für die Ballettschule seiner Hamburger Kompanie zu frühen Folk-Songs. Getanzt von den derzeitigen Youngsters der Schule eröffnete das leichte, fröhliche Ballett die viereinhalbstündige Gala zu Ehren des Jubiläums-Preisträgers im Aalto-Theater. Das „Out-Yondering“, das Über-die-Grenzen-gehen, machte der DbfT-Vorsitzende Ulrich Roehm - der an diesem Abend von allen Seiten Dank für die 25 Jahre Deutscher Tanzpreis erhielt - dann auch in seiner Ansprache zum Motto über Neumeiers Leben.
Marcia Haydée ignorierte das Redner-Pult und hockte sich dem Preisträger direkt gegenüber auf die Bühnenrampe. Die 70-jährige ehemalige Stuttgarter Direktorin, inzwischen so etwas wie die Ballettmutter der Nation, hielt ihre Laudatio ohne Manuskript, als warmherzige, originelle Liebeserklärung einer Weggefährtin und Freundin. Sie begann mit den Worten „Du bist einfach ein Genie“ und erzählte, wie sie und Ray Barra auf John Crankos Bitte den jungen Tänzer Neumeier in London begutachteten und wie ihr vor allem seine Fähigkeit zur unendlichen Konzentration auffiel oder wie Cranko den Hortensio in der „Zähmung“ exakt auf Neumeiers superexakte Füße choreografierte. Sie berichtete von dem Moment, als Neumeier auf der Suche nach einem Sujet für sein erstes Stuttgarter Handlungsballett fündig wurde: Man saß in einem türkischen Restaurant, sie völlig müde und fertig nach einem langen Probentag, da schaute er sie an und sagte: „Wir machen 'Die Kameliendame'.“ Haydée: „Wahrscheinlich hat er da schon die tote Marguerite vor sich gesehen“. Sie erzählte, wie er eine Stunde lang die eine Armbewegung der alternden Marguerite vor dem Spiegel geprobt hat, wie er stundenlang die kleinsten Details mit ihr durchsprach, wie es zur Zusammenarbeit mit Maurice Béjart für „Die Stühle“ kam, „einem der größten Momente unseres Lebens“.
Neumeier bedankte sich in einer Art Mini-Autobiografie und gestand, dass ihm der Gedanke, den Tanzpreis zum zweiten Mal zu bekommen, zunächst doch etwas „habgierig“ erschienen war. Er fragte sich, ob es wirklich Zufall oder nicht doch Fügung war, dass er 1962, anstatt von der Royal Ballet School zurück nach New York zu gehen, einen Vertrag bei einer Kompanie in der deutschen Stadt Stuttgart unterschrieb, deren Namen er bis dahin nicht mal gekannt hatte (geschweige denn das merkwürdige „Sindelfingen“, in das man ihn gleich am ersten Abend verschleppte). Lächelnd las er den Brief vor, den er in seinem ersten Stuttgarter Jahr an Balanchine schrieb, um seine Chance beim New York City Ballet zu wahren.
Zum Glück wurde nichts daraus, stattdessen fing er 1969 mit 28 Tänzern als Direktor in Frankfurt an und ging, als er für seine „Vision eines humanen Ballett-Theaters“ einen größeren Rahmen brauchte, zu August Everding nach Hamburg. Er wollte ein „intelligentes, ein emotional sensibles Ensemble schaffen, erziehen und entwickeln: Menschen waren und sind immer noch mein geliebtes Arbeitsmaterial“, sagte Neumeier, der all seinen Mitarbeitern der langen Jahre dankte. Mit Tränen in den Augen erinnerte auch er an seinen Freund Maurice Béjart, der damals beim ersten Tanzpreis die Laudatio gehalten hatte. Der Amerikaner in Deutschland erzählte nachdenklich von einem Gastspiel seiner Hamburger Kompanie in Japan, als er sich plötzlich zwischen der deutschen und der japanischen Flagge wiederfand, „den zwei Erzfeinden meiner Kindheit“. Und obwohl der Hamburger Ehrenbürger Neumeier seit Kurzem auch deutscher Staatsbürger ist - „Ich bin und bleibe Amerikaner!“.
Warum das amerikanische Publikum mit Neumeier aber noch immer nicht ganz klarkommt, das mochte man beim Ausschnitt aus „Shall we dance“, interpretiert von Silvia Azzoni und Alexandre Riabko, vielleicht ein wenig besser verstehen. Im Vergleich zu Balanchines „amerikanischen“, jazzigen Balletten wie „Who Cares?“ (das nebenan beim Dortmunder Ballett in einer hervorragenden, ja für eine Truppe dieser Größe geradezu sensationell guten Einstudierung von Nanette Glushak zu sehen ist) wirkt diese Gershwin-Hommage dann doch zu kokett und kopflastig, verweigert an entscheidenden Stellen den Tanz, ist einfach zu viel Ballett und zu wenig Rhythmus. Im Gegensatz zu Balanchine fehlt Neumeier für so etwas die Distanz, die Ironie, die Eleganz, mit einem Wort: die Form. Er ist ein Choreograf des Inhalts. Und so rekapitulierten die zehn Pas de deux dieses Abends zwar keinesfalls alle Aspekte von Neumeiers Schaffen - es fehlten zum Beispiel die religiösen und die sinfonischen Werke -, dafür beleuchtete die Serie so ungemein viele Aspekte der Liebe, der schönen und schwierigen Beziehung zwischen zwei Menschen, wie man sie in allen Balanchine-Duos zusammen nie finden wird.
In Reinkultur demonstrierten diese Ausschnitte, wie passend der Hamburger Choreograf Musik auswählt, wie er die großen Klassiker neu erfindet und aus ihnen die Emotionalität moderner Menschen heraushört, wie ihm immer wieder andere Hebungen einfallen, die nie um des Effektes Willen da sind, sondern um in feinsten Unterschieden dem jeweiligen Gefühl Ausdruck zu geben, und wie subtil er die verschiedenen Stadien der Liebe zu choreografieren weiß - die bezauberten Blicke des ersten Verliebtseins, die selige, in sich ruhende Liebe, die Zweifel am Gefühl, am Gegenüber oder an sich selbst bis hin zum Abschied und zur tödlichen Verzweiflung. Zart und verspielt tanzten Valeria Mukhanova und Dmitry Khamzin vom Moskauer Stanislavsky-Theater ihren Pas de deux aus „Die Möwe“, jung und strahlend verliebt kreisten Ivy Amista und Lukás Slavičký vom Bayerischen Staatsballett in „A Cinderella Story“ umeinander. Wenig Gelegenheit, ihre Persönlichkeit zu zeigen, bekamen Silja Schandorff und Sebastian Kloborg vom Königlich Dänischen Ballett Kopenhagen von dem etwas beliebigen Stück „1963: Yesterday“, das hauptsächlich von seiner Beatles-Musik lebte.
Faszinierend getanzt war der Pas de deux aus „Sylvia“, wo die Liebenden Manuel Legris und Laëtitia Pujol ständig aneinander vorbei schauten, während sich ihre Körper doch unhaltbar zueinander sehnten. Und als man grade anfing, bei so viel Gutmenschen-Ballett unter leichtem Überzucker zu leiden, da kam genau rechtzeitig „Endstation Sehnsucht“ aus Stuttgart - das Stück, in dem Neumeier einem modernen erzählenden Tanztheater sicher am nächsten kommt. Neben Jason Reillys brutaler Urgewalt (was für ein Tanzschauspieler!) wirkte Katja Wünsche mit dem beginnenden Wahnsinn von Blanche Du Bois noch ein wenig überfordert.
Sicher gibt es auch unterschiedliche Interpretationsansätze für die Pas de deux der „Kameliendame“ - technisch und tänzerisch dürfte es besser kaum gehen als mit Lucia Lacarra und Roberto Bolle. Wer aber den emotionalen Ansatz bevorzugt (wie ihn zum Beispiel Sue Jin Kang und Marijn Rademaker im Pas de deux aus dem zweiten Akt zeigten), der bekam von dem spanisch-italienischen Paar im letzten, dem „schwarzen“ Pas de deux eine Lektion in künstlicher Oberflächlichkeit erteilt. Auch wenn Lacarra zwischendurch ein paar exaltierte Huster einwirft, kämpft sie hier nie gegen ihren Körper, ihr Tanz wird nie schwach oder müde, sondern bleibt bis zuletzt brillant, exakt und rasend schnell. Marguerite ist sterbenskrank und nimmt Abschied von der Liebe ihres Lebens, aber die Frisur sitzt. Bolle ist sicher einer der schönsten Armands, die je die traurige Kurtisane verehrten, aber auch bei ihm sieht man nichts von der bisher durchlittenen Vergangenheit; statt tief verbittert und zynisch wirkt er wie ein großer trauriger Junge, er zerlegte die Wandlung von Wut zu Liebeswut in eine Serie einzelner Neins! und Hachs!.
Der Schluss gehörte den Hamburger Tänzern, der mystischen Meerjungfrau Silvia Azzoni, für deren Wasserwelt Neumeier eine so eigene, schwebende Bewegungssprache gefunden hat, sowie dem Duett zweier Titanen: Alexandre Riabko und Peter Dingle verkörperten Maurice Béjart und John Neumeier in „Opus 100 - For Maurice“, Neumeiers Hommage aus dem Jahr 1996, damals für Kevin Haigen und Ivan Liška choreografiert. Wie hatte Marcia Haydée ihre Laudatio beschlossen: „Zwei Phänomene sind schon weg: Cranko und Béjart. Du bist da. Du musst weitermachen.“
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