Theatertanz auf religiöse Musik

John Neumeiers „Matthäus-Passion“ und „Weihnachtsoratorium“: Eine aufschlussreiche Ballettwerkstatt in Hamburg

Hamburg, 17/01/2008

Schon zu Beginn relativierte Hamburgs Ballett-Intendant John Neumeier das Motto der ersten Ballettwerkstatt des Jahres am 13. Januar 2008: „Der sakrale Tanz“ sei als Titel zu hoch gegriffen, man bräuchte Hunderte von Ballettwerkstätten, um dem damit verbundenen Anspruch auf den Grund zu gehen, denn Tanz sei vom Charakter her sakraler Natur. Viele Tänze haben ihren Ursprung in Tempeln oder Gotteshäusern, und ganz generell habe Tanz mit der Beziehung der Menschen zu Göttern oder zu Gott zu tun. Ein passenderer Titel für diesen Vormittag sei vielleicht „Theatertanz auf religiöse Musik“ am Beispiel der 1980 uraufgeführten „Matthäus-Passion“ und dem erst jüngst aus der Taufe gehobenen „Weihnachtsoratorium“.

Und so führte Neumeier mit dem ihm eigenen Charme zwei Stunden lang auf höchst informative, nachdenkliche und zugleich unterhaltsame Art und Weise durch dieses sperrige Thema. Er habe, sagte Neumeier, beide Werke oder auch Bachs „Magnificat“ und Händels „Messias“ nicht als Ersatzgottesdienst gemacht, weil er missionieren wolle, sondern weil es um Fragestellungen gehe, mit der er sich als im Christentum erzogener Mensch auseinandersetzen müsse, und weil Tanz eine ernsthafte Kunst ist, die den ganzen Menschen und somit auch seine spirituellen Seiten reflektiert. Vor allem aber, weil es sich um tanzbare Musik handelt, die „einen vom Stuhl reißt“. Es sei die Potenz der Musik, die es ermögliche, diese geistige Auseinandersetzung in Tanz umzusetzen und in Bewegung auszudrücken. Es gehe ihm auch nicht um eine historische Darstellung oder um Figuren.

Die 41 Tänzer in der „Matthäus-Passion“ betreten die Bühne als das, was sie im Leben sind: Tänzer. Sie setzen sich hin und hören der Musik zu. Auf dieser Grundlage können sie Rollen annehmen und Grundsätzliches verdeutlichen. Die wichtigste Frage dabei sei immer wieder: Wie wäre es, wenn ich dieser Mensch wäre, um den es hier geht – ob Petrus, Christus, Judas, Maria, Maria Magdalena oder ein Mensch aus dem Volk. Die schlichten, einheitlichen Kostüme tragen das Ihre dazu bei. Er habe mit den weißen Kleidern, Hemden und Hosen nichts Modisches oder Historisches kreieren wollen, sondern etwas Zeitloses, allgemein Gültiges, das sich jeder Situation anpasst. Nur Christus hebt sich ab – mit einem Frackhemd. „Ich weiß nicht mehr, wie ich darauf gekommen bin“, sagt Neumeier. Das Frackhemd erinnere an ostasiatische Gewänder, habe aber durch die Manschetten und das gestärkte feine Gewebe etwas Offizielles, Formelles, das alle Assoziationen erlaube. Auf dem Boden ausgebreitet ergebe das Hemd fast ein Kreuz, das Stück könnte so beginnen, aber Neumeier greift diese Symbolik immer wieder auf – auch im Weihnachtsoratorium. Er habe das aus dem japanischen Nô-Theater entlehnt, sagte Neumeier – dort symbolisiere der auf dem Boden ausgebreitete Kimono einen Toten. In seinen Stücken ist das Hemd der Corpus Christi, in „Parzival“ steht es sogar für den Gral, der so kostbar ist, dass es nur wenigen vergönnt ist, ihn zu finden.

Im „Weihnachtsoratorium“ hält Maria das Hemd wie ein Erinnerungsstück, das eine Mutter als Andenken an ihr Kind bewahrt. Und sie erlebt damit – hinter einer der beweglichen Glaswände – auch die Vision von der Zukunft Christi, seinen Tod am Kreuz. Der Weg hin zu einer neuen Choreografie sei für ihn immer wieder am aufregendsten, sagte Neumeier: „Im Finden etwas erfinden und im Erfinden etwas finden.“ Er habe anfangs meist kein genaues Konzept im Kopf, er wisse weder Anfang noch Ende, er fange einfach mit der körperlichen und seelischen Begegnung an: Worum könnte es gehen? Beim „Weihnachtsoratorium“ habe er mit dem Choral „Bereite dich, Zion“ begonnen. Den Begriff des Bräutigams darin habe er allerdings nie im Wortsinne verstanden, sondern wie im Hohelied Salomos: als Beziehung zu Gott. Und wagte hier auf offener Bühne ein hochinteressantes Experiment: Silvia Azzoni und Lloyd Riggins, die zu Beginn den ergreifend-innigen Pas de deux aus der Matthäus-Passion „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ zeigten, tanzten exakt diese Choreografie nun zur Musik aus dem Weihnachtoratorium, und zwar zum „Accompagnato“ – und siehe da: es geht! Es war verblüffend, wie diese für ganz andere Musik choreografierten Schritte selbst hier passten, und es wurde offenkundig, wie universell tragend diese tänzerischen Elemente sind.

Den Rahmen für das Weihnachtsoratorium ergebe die schlichte Aufforderung von Kaiser Augustus an die ganze Welt, sich registrieren zu lassen. Am Anfang sind alle Menschen unterwegs. Man brauche in diese Szene zu Beginn des Stücks nichts sonst hineinzugeheimnissen – es gehe um diese schlichte Tatsache, hier wie auch im weiteren Verlauf, symbolisiert mit den Koffern und den grauen Mänteln, die auch in Neumeiers Choreografie von Schuberts „Winterreise“ vorkommen – die habe er nicht aus Sparsamkeit dort entliehen, sondern weil er es richtig findet. Man müsse nicht jedesmal etwas neu erfinden, was noch nie dagewesen war, erklärte Neumeier. Mäntel wie Koffer passten exakt zu dem, was er darstellen wollte: das Unterwegssein.

In jeder Choreografie, so Neumeier, lerne er neue Charaktere kennen, beim Weihnachtsoratorium sei es die Figur des Josef gewesen. Wenn glauben bedeute, vertrauen zu können, so sei Josef der erste Gläubige: Er bleibt bei Maria, obwohl sie nicht von ihm schwanger ist, er kümmert sich um sie, gibt ihr Schutz und Sicherheit, und verschwindet irgendwann aus ihrem Leben. Im Ballett wird Josef zu Jedermann. Er löst sich auf in der Allgemeinheit. Den Choral „Wie soll ich dich empfangen“ habe er deshalb dieser Figur gewidmet – und Peter Dingle zeigte einmal mehr, welches enorme Entwicklungspotenzial in ihm steckt. Auf diesen Tänzer darf sich das Hamburger Publikum noch hoffentlich oft freuen.

Aber es gab auch Stellen im „Weihnachtsoratorium“, an die er sich kaum herantraute und die ihm schwer gefallen sind, gestand Neumeier. Wie zum Beispiel die überschäumende, unbändige Freude in Bewegung umsetzen, die in der Musik des „Jauchzeit, frohlocket“ liegt? Das könne man nicht mit dem Kopf ausdenken, das müsse man empfinden und tanzen, und so sei diese Sequenz „aus eigenem Schweiß geboren“. Auf diese Weise erläutert und sodann noch einmal vom Hamburger Ensemble präsentiert, wurde einmal mehr deutlich, wie emotional, aber auch wie verdichtet gerade diese Choreografie ist, ein Feuerwerk an Jauchzen und Frohlocken! Damit das ganze nicht abhebt, um die Freude wieder zu erden, lässt Neumeier aber auch hier die heimatlosen Reisenden durchs Bild ziehen – denn das Wissen um das weniger Schöne, das Traurige, ist für ihn immer Bestandteil der Momente größter Freude und überglücklichen Jubels.

An solchen Vormittagen wird vieles einsichtig, was in der Aufführung manchmal rätselhaft bleibt. Der Kulisse und des Kostüms meist gänzlich entkleidet und nur vor schwarz abgehängten Gassen und im Trikot getanzt, erlangt die Choreografie eine Transparenz, die sonst nur schwer oder nach vielfach wiederholtem Schauen wahrnehmbar ist. Nicht zuletzt deshalb sind Neumeiers Werkstätten, traditionell am Sonntagvormittag veranstaltet, beim Hamburger Publikum sehr begehrt. Dass bei dieser Benefiz-Werkstatt, die sonst Anfang Dezember und normalerweise zugunsten des Hospizes „Hamburg Leuchtfeuer“ stattfindet, 25.000 Euro für die NCL-Stiftung zusammenkamen, die sich um Kinder mit einer seltenen, aber tödlich verlaufenden Krankheit kümmert, war ein zusätzlicher Gewinn an diesem großartigen und geistig wie sinnlich erfüllten Sonntagvormittag. Näheres zur NCL-Stiftung unter www.ncl-stiftung.de.

Die nächste Ballettwerkstatt findet am 24. Februar 2008 statt. Dann geht es um das Thema „Shakespeare vertanzt“ und die vier Tage später bevorstehende langersehnte Wiederaufnahme von Neumeiers 1985 uraufgeführtem und jetzt en suite vom 28.02. bis 05.03. gezeigten „Othello“ in der Hamburger Kampnagelfabrik.

 

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