Traumabstecher in die Vergangenheitszukunft

Paul Taglionis „Der Seeräuber“ in der Berliner Staatsoper Unter den Linden

oe
Stuttgart, 05/01/2008

War dies nun wirklich der 18. September 1838? Aber die Umgebung wirkte so funkelnagelneu, roch so frisch gestrichen! Oder befand ich mich an irgendeinem Tage des Jahres 2013, gar 2014? Keine Frage, dies war die Berliner Staatsoper Unter den Linden. Und der Premierenzettel verkündete: „Der Seeräuber“, großes Ballett von Paul Taglioni. Doch hinterher, als ich aus meinem Traum erwachte, war ich mir nicht im Klaren, hatte ich nun geträumt, in der Uraufführung des dann so überaus populären Balletts zu sein – oder war dies die Eröffnungsvorstellung des Hauses nach seiner spektakulären Renovierung? Schwer zu sagen – da war offenbar verschiedenes durcheinandergeraten, wie das eben in Träumen passieren kann. Jedenfalls weiß ich, wie dieser Traum zustande gekommen ist. Ich hatte den ganzen Abend mit dem gerade erschienenen zweiten Band der „Souvenirs de Taglioni“ verbracht (über den ersten habe ich hier am 1. Juni vorigen Jahres berichtet). Der trägt den Untertitel „Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ und ist, wiederum herausgegeben von Gunhild Oberzaucher-Schüller, bei K. Kieser in München erschienen (2007, ISBN 978-3-935456-18-0, 34.- €).

Mit seinen 364 Seiten ist er allerdings erheblich umfangreicher geraten – kein Wunder, denn es sind siebzehn Autoren mit achtzehn Aufsätzen darin vertreten, darunter mehrere über die Geister und Elementarwesen der Romantik. Die habe ich natürlich nicht alle hintereinander gelesen – dazu bedarf es bei meinem Lesetempo mehrerer Wochen. Sondern mich auf zwei konzentriert: auf Oberzaucher-Schüllers „Berliner Skizzen“ (immerhin 18 Seiten) und Manuela Jahrmärkers „Produktive Lektüren – Filippo und Paul Taglioni, Joseph Mazilier und Giovanni Galzerani und die individuellen und kulturellen Merkmale ihrer Dramaturgien“ (24 Seiten). In beiden ist ausführlich von Paul Taglionis „Der Seeräuber“ die Rede – hinter dem sich bekanntlich Lord Byrons „The Corsair“ von 1814 verbirgt, der ja in der Ballettversion von Petipa als „Le Corsaire“ durch seine Neueinstudierungen in München und Moskau jüngst für einiges Aufsehen gesorgt hat. Dazu ist anzumerken, dass Paul Taglioni offenbar bereits der dritte war, als er sich 1838 von Lord Byrons Verserzählung zu einem Ballett inspirieren ließ – nach Galzeranis „Il corsaro“ von 1826 und François Decombe Alberts „Le Corsaire“ (London 1837) – vor Joseph Maziliers „Le Corsaire“ (Paris, 1856) und natürlich vor Petipas St. Petersburger „Le Corsaire“ von 1899. Es verwundert denn doch, dass im Zuge der reichlichen Vorpropaganda für die Produktionen in München und Moskau niemand auf diese früheren Versionen hingewiesen hat (von denen Taglionis Berliner die erfolgreichste gewesen zu sein scheint – bis 1895 138 Vorstellungen).

In den beiden Aufsätzen von Jahrmärker und Oberzaucher-Schüller sind derart viele detaillierte Informationen enthalten, die eine Rekonstruktion von Taglionis „Seeräuber“ wünschenswert und auch möglich erscheinen lassen – natürlich nach entsprechender dramaturgischer Überarbeitung und unter Berücksichtigung der stilistischen Eigenheiten der Taglionischen Choreografien. Ich weiß nicht, wie es um die Überlieferung der Musik von Wenzel Gährich bestellt ist. Falls sie verloren gegangen ist, könnte ich mir ein Musikarrangement à la Stolze für Crankos „Onegin“ und „Widerspenstige“ vorstellen (auch wenn ich grundsätzlich kein Freund solcher Potpourris à la Mackerras bin). In diesem Fall könnte man vielleicht auf wenig bekannte Kompositionen von Meyerbeer zurückgreifen, der ja von 1832 an preußischer Hofkapellmeister war. Jedenfalls wünschte ich mir, dass man sich in Berlin einmal zusammensetzte – vielleicht in der Runde Rolf Iden (als Verfasser der diversen Paul Taglioni-Artikel in der Piper-Enzyklopädie), Vladimir Malakhov, Christiane Theobald, Ralf Stabel und Volkmar Draeger – um zu überlegen, wie man zu einer eigenen Berliner Ballettversion des „Korsaren“ kommen könne, die zu einer Identitätsfindung des Staatsballetts beitragen könnte – und natürlich ein prächtiger Beitrag für die Festveranstaltungen des wiedererstandenen Hauses Unter den Linden wäre.

Ebenso gut – und vielleicht noch besser geeignet für diesen Zweck fände ich es, wenn man sich einmal Gedanken machte über eine Rekonstruktion von Paul Taglionis „Flick und Flocks Abenteuer“ aus dem Jahr 1858 (bis 1896 451 Vorstellungen – weitere 213mal in London, 220mal in Wien und 102mal in Mailand). Wenn ich die Beschreibung dieses „Komischen Zauberballetts“ in der Piper-Enzyklopädie lese, wittere ich in diesem Ballett ein Berliner Pendant zu Bournonvilles „Napoli“. Spaß machen würde es den Tänzern und dem Publikum jedenfalls. Und wäre doch schön, wenn das Staatsballett auf diese Weise zu seinem Markenzeichen käme: ein Berliner Ballett des Vormärz, ganz aus dem Geiste Adolf Glaßbrenners! Vielleicht liefert mir ja ein Traum noch ein paar Hinweise!

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