Tschaikowsky

Das Leben: ein getanzter Roman

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Karlsruhe, 02/02/2008

Kein Wort des hier am 24. November 2005 veröffentlichten Journals über die Salzburger Uraufführung ist zurückzunehmen. Im Gegenteil, die Karlsruher deutsche Erstaufführung des Tschaikowsky-Balletts von Peter Breuer bestätigt: der Zweiteiler ist das aktionsreichste Ballett der Ballettgeschichte – 170 Minuten (die Pause inklusive), eine überwältigende Bilderfülle, aus der man wie benommen herausgeht. Und er bestätigt die kluge Ballettpolitik Birgit Keils. Der Abend gerät zum Triumph des Karlsruher Balletts – und seiner Kooperation mit der Akademie des Tanzes Mannheim. Und er ist Tanz, Tanz und Theater: modernes Ballett-Theater. Der all die Tschaikowsky-Vertanzungen deklassiert, die wir in letzter Zeit über uns haben ergehen lassen: ob in Berlin, Wien oder aus St. Petersburg (um nur die ambitioniertesten zu nennen). Im Vergleich zu Karlsruhe nimmt sich die Salzburger Uraufführung wie die Skizze zu einem Breitwandgemälde aus.

Es ist der getanzte Roman des Lebens von Pjtor Iljitsch – der Roman, zu dem Klaus Mann das Libretto geschrieben und die Choreografie besorgt hätte, wenn er denn nicht als Schriftsteller, sondern als Ballettmann auf die Welt gekommen wäre. Und so sind denn der Salzburger Ballettchef Peter Breuer und sein Dramaturg Michael Alexander Sauter für ihn eingesprungen und haben diesen Ballettroman über das Leben Tschaikowskys verfasst – sein fatalistisches Leben, das ganz in seinem Oeuvre aufgegangen ist, den Sinfonien und seinen Bühnenwerken, den Opern und Balletten. Das Leben ein Ballett-Traum, in dem das eine in dem anderen gespiegelt erscheint, in dem sich Wirklichkeit und Imagination miteinander vermischen. Haben sich von Matthias Mädel die Musik arrangieren lassen (noch schöner wäre es natürlich gewesen, sie hätten sie sich von Mädel ein Tschaikowsky-Pasticcio neu komponieren lassen) und von Dorin Gal den transparenten Noten-Käfig, in dem Tschaikowsky Zeit seines Lebens gefangen blieb (so, wie unter dem glocken-gluckenhaften Rock seiner früh verstorbenen Mutter).

Es ist eine unglaublich reiche Choreografie, die Peter Breuer aus dem Füllhorn seiner Kreativität in diese Tänze verströmt hat, Soli, kleinere und größere Ensembles, lawinenhaft gesteigerte Corps-Szenen – ausnahmslos alle aus der Musik entsprungen, dabei die ganze Tschaikowsky-Ikonografie zitierend, sogar im Parodieverfahren, wenn das berühmte Onegin-Lenski-Duett hier von den beiden Frauen Nadeshda von Meck und der Tschaikowsky-Gattin Antonina ausgefochten wird. Natürlich fehlt die Briefszene aus „Eugen Onegin“ nicht. Und auch nicht die geheimnisvolle Gräfin aus „Pique Dame“. Und natürlich nicht die Schwäne, die idealistischen weißen und die dämonischen schwarzen. Und nicht der utopische Prinzen-Kavalier, als der Diego de Paula die Rolle seines Lebens tanzt: verführerisch und doch frustrierend unnahbar. Es ist eine Choreografie, die für sechs Ballette reicht – mindestens, so, dass man schon in die Pause geht, stöhnend ob der weiteren Tanz- und Bilderflut, die da unweigerlich auf einen zukommt.

In der Tat mutet Breuer uns danach noch derart viel zu, was wir kaum mehr verkraften können – wie die wiederholten Irren-Auftritte Antoninas (auf dem Weg in die „Endstation Sehnsucht“?) und des Trottel-Zaren (eine Anleihe aus Rimski-Korsakows „Goldenem Hahn“). Wie denn überhaupt ein paar Kürzungen (auch die St. Petersburger Modenschau) der Vorstellung zugutekommen würden.

Es ist phantastisch zu sehen, wie das Karlsruher Ballett von Premiere zu Premiere wächst, technisch wie auch künstlerisch, wie die Corps-Reihen immer ausgezirkelter werden, die Sprünge immer ausgreifender, die Landungen wie Schlusspunkte, das Timing immer exakter – auch wenn die Pirouetten – in Salzburg eine lokale Spezialität wie die legendären Nockerln – noch nicht ganz die absolute Perfektion haben wie auf der Bühne des dortigen Landestheaters. Es sind aber auch Rollen, in die sich die Karlsruher Tänzer geradezu mit Wonne stürzen – auch wenn Marcos Menha für die Marathon-Partie des Tschaikowsky wohl die Durchhaltekraft, aber noch nicht die Reife hat, die ein Robert Tewsley mitbrächte, so dass sie ihm insgesamt zu rechtschaffen-bürgerlich gerät. Fabelhaft individuell kontrastiert sind die drei Frauenrollen der Mutter Tschaikowskys (Xue Dong), der Nadeshda von Meck (Elena Gorbatsch) und der Antonina (Bruna Andrade) – zumal da sie über ihre realen Gestalten auch noch die fiktiven Charaktere aus Tschaikowskys Bühnenoeuvre zu verkörpern haben. Mit herzenswarmer brüderlicher Zuneigung tanzt Admjill Kuyler den Modest, mit unbeirrbarer Autorität (wie der Sensenmann in Jooss´ „Grünem Tisch“) Arman Aslizadyan die Rolle des Fatums.

Endlich hat Peter Breuer in Karlsruhe die Chance gehabt, im Großen zu beweisen, was seine bisherigen eher kleinformatigen Arbeiten vermuten ließen: welch ein kraftvoll-dramatisch-theatralischer Ballettgeschichten-Erzähler in ihm steckt. Und er hat sie weidlich genutzt. Er wäre genau der Mann, den die großen Opernballettkompanien angeblich händeringend suchen. Die Wiener Lokalpolitiker müssen wahrlich blind sein, wenn sie verkennen, was für eine künstlerische Potenz da an der Salzach am Werke ist (auch wenn man Breuer zu größter Vorsicht raten muss, sich auf den Schleudersitz des Wiener Opern-Ballettdirektors zu begeben). Den Baslern aber möchte man empfehlen, die ganze Wherlocksche „A Swan Lake“-Crew in einen Bus zu verfrachten und zu einer Karlsruher Vorstellung zu transportieren, damit sie einmal eine Ahnung davon bekommen, was ein abendfüllendes zeitgenössisches Tschaikowsky-Ballett ist!

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