Von gleicher Qualität wie die „Salzburger Nockerln“: die „Salzburger Pirouetten“

Peter Breuers sensationeller „Tschaikowsky“-Abendfüller

oe
Salzburg, 24/11/2005

Christian Schneider, Salzburger Landestheater Ist denn plötzlich die Ballettwelt vom Tschaikowsky-Wahn befallen? „Dornröschen“ neu bei Malakhov in Berlin, „Schwanensee“, ebenfalls neu, bei Spoerli in Zürich. „Tschaikowski Impressionen“ von Cavallari in Wien. „Die letzte Symphonie“ von (T.) bei Schindowski in Gelsenkirchen. „Tschaikowsky“ von Breuer in Salzburg. Und demnächst – wie eine Drohung nach seiner läppischen „Anna Karenina“ – von Eifman in Berlin. Und schließlich, nicht zu vergessen, „Tschaikowsky“ von Kajdanski in Eisenach. Da kommt man sich als Stuttgarter mit dem Uralt-„Schwanensee“ von Cranko und dem immer mal wiederbelebten „Dornröschen“ von Haydée direkt hinter dem Mond lebend vor!

Ursprünglich hatte ich Wien und Salzburg an aufeinander folgenden Tagen geplant. Doch die Nachrichten aus Wien waren derart verheerend, dass ich den so gründlich verunglückten Harangozó-Start strich – auch meinem vorhandenen Masochismus sind denn doch gewisse Grenzen gesetzt. Also blieb‘s vorerst bei Salzburg. Von wo zu vermelden ist: von allen mir bekannten das aktionsreichste Ballett der ganzen Ballettgeschichte! 135 Minuten, inklusive Pause (immerhin 22 über die ganze Spielzeit verteilte Vorstellungen).

Das ganze Leben Tschaikowskys, eine regelrechte Enzyklopädie, in neun Szenen zwischen Prolog und Epilog, dramaturgisch verzahnt von Peter Breuer und Alexander Sauter, beginnend und endend mit der Christopher Street Parade und Freddie Mercurys „I Want to be Free“. Dazwischen Szenen aus Tschaikowskys Leben, außerordentlich clever verknüpft mit seinen Werken, in nahtloser, geradezu filmischer Abfolge (alles leider aus dem Lautsprecher). Von Dorin Gal mit sparsamsten Mitteln dekorativ in Bewegung gehalten (und stimmungssuggestiv ausgeleuchtet von Eduard Stipsits).

Reales, Fiktives und absolut verrücktes Surreales, Biografie, Werkkatalog und die ganze Personnage seines Lebens miteinander collagiert – und exakt auf die ausgewählten Musiken choreografiert: Das Feme-Gericht der St. Petersburger Gesellschaft als Rahmen, die Mutter, der Bruder, das Phantom seines Liebesbegehrens, das schicksalhafte Fatum, Frau von Meck, die ungeliebte Gattin Antonia und das Duell der beiden Rivalinnen (zur Musik des Lensky-Onegin-Duells aus der Oper!), Petipa bei der Probe im Mariinsky Theater, dazu „Schwanensee“, „Nussknacker“ und „Dornröschen“, aber auch „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“ sowie das zweite Klavierkonzert, Tatjanas Briefszene als Briefszene der Frau von Meck, der Liebesreigen der Kavaliere um Antonia zu den schwülstigen Klängen von Rimsky-Korsakows „Scheharazade“ – und nicht zu vergessen die „Carmen“-Begeisterung Tschaikowskys.

Es ist nicht zu fassen, was Breuer und Sauter in die zweieinviertel Stunden gepackt haben. Auch diejenigen Zuschauer, die sich nicht vorher über die biografischen Bezüge in der Inhaltsangabe des Programmheftes informiert haben, kommen aus dem Staunen nicht heraus, konfrontiert mit immer neuen Bildern, dass der Kopf brummt! Und alle diese Gestalten (in Doppel- und Dreifachrollen, da Salzburg nur über zwölf Tänzer plus drei Eleven und ein paar Statisten verfügt), werden von Breuer höchst individuell und – wie gesagt – äußerst musikalisch profiliert und mit einer dramatischen Zugkraft integriert, die lawinenartig bis zum Schluss gesteigert erscheint. Es ist phantastisch! Sollte man jedem Choreografen, der sich an ein abendfüllendes Ballett wagt, als Studienmodell zwangsverordnen! Und wird getanzt, als wären sie alle gedopt – mit den technisch-virtuosen Sahnehäubchen der Breuerschen Unendlichkeits-Pirouetten (Schule: Gustav Blank!).

Eine einzige tänzerische Tour de force. Tanztheater? Na ja! Soviel Ballett ereignet sich heutzutage äußerst selten – und weiß sich doch einer großen Tradition verpflichtet: von Coralli/Perrot über Bournonville, Saint Léon, Petipa, Diaghilew, Fokine und Massine, Ashton, Petit und Cranko bis eben: Breuer, Salzburg 2005. Die Haupttänzer: Dorian Salkin (Tschaikowsky), Marian Meszaros (Knabe), Alexander Perede (Fatum), Alexander Korobko (Bruder Modest), Cristina Uta (Nadeshda von Meck), Anna Yanchuk (Mutter) ... Sollte unbedingt nach Stuttgart/Ludwigsburg eingeladen werden, um den Cranko-Erben einmal zu demonstrieren, wie theatralisch spannend und tänzerisch faszinierend Ballett – jawohl: Ballett – zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer sein kann! P. S. Auf der Rückreise noch in München Station gemacht für eine Abo-Vorstellung (zum 51. Mal) von „La Bayadère“. Volles Haus, große Publikumsbegeisterung, exzellent getanzt von Lisa-Maree Cullum (Nikija), Natalia Kalinitchenko (Gamzatti), Roman Lazik (Solor) samt den Heerscharen von Koryphäen und 24 diplomierten Bajaderen. Bis auf das fahrlässig unterproduzierte Schlussbild (im Tempel), vor allem auch der farblich süperben Ausstattung wegen, vielleicht die beste deutsche Klassikerproduktion (zusammen mit Peter Wrights Karlsruher „Giselle“).

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