„Der Nussknacker“ von Edward Clug. Tanz: Ensemble

„Der Nussknacker“ von Edward Clug. Tanz: Ensemble

Ein Klassiker für jedes Alter

Edward Clug und Jürgen Rose bescheren dem Stuttgarter Ballett einen durch und durch familientauglichen „Nussknacker“

50 Jahre hat es gedauert, bis Stuttgart endlich wieder DAS Weihnachtsmärchen par excellence bekam. Die neue Version ist ein opulent ausgestattetes Stück für alle Generationen.

Stuttgart, 27/11/2022

„Der Nussknacker“ zur Musik von Peter Iljitsch Tschaikowsky ist der Dauerbrenner unter den Ballettvorstellungen in der Advents- und Weihnachtszeit. So gut wie jede große Kompanie hat ihre eigene Version davon. Ausgerechnet das Stuttgarter Ballett musste allerdings geschlagene 50 Jahre lang darauf verzichten, denn die Cranko-Version aus 1966 wurde damals nicht oft gespielt und auch nicht notiert, sie ging unwiederbringlich verloren. Danach gab es nur noch eine höchst düstere Kurzfassung im Kammertheater von Marco Goecke, der auch kein langes Leben beschieden war. Diese Lücke im Repertoire ist nun endlich wieder gefüllt: Der rumänische Choreograf Edward Clug hat dem Stuttgarter Ballett zusammen mit dem Bühnen- und Kostümbildner Jürgen Rose einen neuen „Nussknacker“ beschert – und diese Version hat definitiv das Zeug dazu, in Stuttgart Wurzeln zu schlagen, tiefe, stabile Wurzeln.

Clug orientiert sich nicht an der klassischen Petipa-Version und der Vorlage von Alexandre Dumas mit ihrem übertriebenen Zuckerguss, die heute kaum noch anzuschauen ist. Es war von vornherein klar, dass E.T.A. Hoffmanns Märchen „Nussknacker und Mausekönig“ aus 1816 die Grundlage für das Ballett sein sollte, und Vivien Arnold, Direktorin Kommunikation und Dramaturgie beim Stuttgarter Ballett, hat dafür das Libretto erarbeitet. Im ersten Akt erzählt der Patenonkel Drosselmeier nach anfänglichem fröhlichem Treiben auf dem Weihnachtsmarkt den Kindern Clara und Fritz zuhause das Märchen vom Mausekönig, der Drosselmeiers Neffen in einen struppigen Nussknacker verwandelt hat. Als Clara von Drosselmeier zu Weihnachten einen hölzernen Nussknacker geschenkt bekommt, entwickelt das Kind eine lebhafte Phantasie: Um Mitternacht erscheint der Mausekönig mit seinem Mäuse-Hofstaat und jagt Clara einen gehörigen Schrecken ein. Aber dank der tatkräftigen Hilfe des Nussknackers, Fritz‘ Zinnsoldaten und weiterer zum Leben erweckter Spielzeugfiguren wird der Mausekönig besiegt. Clara kümmert sich liebevoll um den in den Kämpfen verwundeten Nussknacker, der jedoch im Wald verschwindet. Ein Rehbock und ein Hirsch erscheinen, ebenso die Feen und die Königin des Waldes. Mit einem großen Hammer versucht Drosselmeier eine riesige Walnuss, die bedrohlich über ihren Köpfen schwebt, zu zertrümmern. Im zweiten Akt machen sich Drosselmeier und Clara auf die Suche nach dem Nussknacker, unterstützt von ihren Spielsachen. Schließlich entsteigt er in Menschengestalt einer goldenen Walnuss – denn dank Claras bedingungsloser Liebe wurde er vom Fluch des Mausekönigs erlöst. Und wenn sie nicht gestorben sind...

Von vornherein stand fest, dass das Stück nicht nur Kinder mit ansprechen, sondern auch im Tanz die verschiedenen Altersstufen der John Cranko Schule einbeziehen sollte. 16 Rollen für Kinder in insgesamt drei Besetzungen hat Clug in seiner Choreografie jetzt vorgesehen – sie werden mit Sicherheit dazu beitragen, dass es den Ballettschulen in der Region Stuttgart künftig an Nachwuchs nicht mangeln dürfte...

Dass Walnüsse in diesem Ballett eine zentrale Rolle spielen, geht auf die erste Begegnung zwischen Edward Clug und Jürgen Rose am 16. Dezember 2019 zurück. Dabei, so berichtet Vivien Arnold im Programmheft, legte Clug einige Walnüsse aus seinem Garten auf den Tisch und meinte: „Ich finde, der Nussknacker hat viel mit diesen Nüssen zu tun.“ Jürgen Rose griff diese Idee nur zu gern auf – denn mit Nüssen lässt sich, noch dazu mit dem Stoff aus E.T.A. Hoffmanns Märchenwelt, trefflich etwas anstellen auf der Bühne. Und so tauchen die Nüsse wie ein Leitfaden immer wieder auf – mal klein und handlich wie ein Spielzeug, mal überdimensioniert groß wie Berge, mal bedrohlich, mal in viele Bruchstücke zertrümmert. Das ewige Kind in Jürgen Rose konnte seiner Fantasie freien Lauf lassen – was darf sich da doch alles auf der Bühne tummeln: die Familie Stahlbaum und deren Freunde samt großer Kinderschar, die Mäuse und ihr König, Zinnsoldaten, Schmetterlinge, Waldfeen, ein Drache, ein Rehbock, ein Hirsch, zwei Eichhörnchen, 16 fragile Waldfeen und ihre Königin, drei Toreros, Harlekins, russische Matroschkas und Kosaken, zwei Kamele, sechs Käfer und ihr Anführer. Der nussbaumfarbene Bühnenraum, den an der rechten Wand ein echtes Hirschgeweih schmückt, gibt einen wunderbar wandlungsfähigen Rahmen. Später öffnet sich der Bühnenraum für eine lichte Waldszene mit einem von Rose von Hand gezeichneten Walnussbaum, der sich scherenschnittartig gegen den hellen Hintergrund abhebt und im 2. Akt dann für drei riesengroße, variabel einsetzbare Nüsse. Die Kostüme sind wie immer kleine Kunstwerke für sich – jedes anders, jedes speziell auf seine Art, ein Augenschmaus!

Jürgen Rose hat mit dieser Ausstattung wohl sein letztes großes Werk abgeliefert. Eine so aufwändige Arbeit – die Entwicklung der Produktion hat sich über drei Jahre hingezogen – ist dem mittlerweile 85-Jährigen kräftemäßig vielleicht so auch nicht mehr zuzumuten, ganz abgesehen davon, dass es kaum noch Häuser gibt, die sich einen solchen Aufwand leisten wollen oder können. Und so mischte sich in den Jubel über diese gelungene neue Nussknacker-Version auch ein Gutteil Melancholie und Wehmut, dass das ungeheuer vielfältige und umfangreiche Werk dieses wunderbaren Bühnenkünstlers tatsächlich endlich sein soll. Kaum vorstellbar...

Choreografisch hat sich Edward Clug mit diesem seinem ersten klassischen Ballett einiges einfallen lassen – viele Gruppentänze sprühen nur so vor rasch wechselnden Schrittkombinationen, die Pas de Deux zwischen Clara und dem Nussknacker bzw. später mit ihrem Prinzen alias dem Neffen Drosselmeiers atmen eine feine Poesie, auch wenn es sich zum Schluss hin etwas dehnt und wiederholt und man das Gefühl hat, dass ihm da ein bisschen die Luft ausgegangen ist. Clever gelöst hat Clug den arabischen Tanz, den zwei Kamele (in denen jeweils zwei Tänzer*innen stecken) mit umwerfender Komik ausgestalten, oder auch den chinesischen Tanz, der hier einfach sechs Käfern anvertraut wird – wobei man allerdings nicht mehr so richtig weiß, was das nun mit Asien zu tun haben soll. Da scheint dann doch angesichts der derzeitigen Diskussionen um die Darstellung nichteuropäischer Ethnien etwas vorauseilender Gehorsam am Werk gewesen zu sein… Und so manches erscheint dramaturgisch nicht so ganz schlüssig – zum Beispiel, warum der verschwundene Nussknacker plötzlich als Prinz einer goldenen Nuss entsteigt – aber hey, es ist ein Märchen! Noch dazu mit einem höchst gelungenen, witzigen Schluss, der hier aber nicht verraten sein soll...

Getanzt wird das Stück mit gewohnter Stuttgarter Brillanz – allen voran Elisa Badenes als Clara. Friedemann Vogel ist ein ebenso kantiger Nussknacker wie geschmeidig-eleganter Prinz. Jason Reilly gibt einen wunderbar rätselhaften Drosselmeier, Matteo Miccini einen sprunggewaltigen Fritz, Sonia Santiago brilliert als zunehmend beschwipste Großmutter Stahlbaum. Das ganze Ensemble hat sichtlich Spaß daran, im Tanz wieder Kind sein zu dürfen und wirft sich mit Verve in die verschiedenen Rollen.

Das einzige Ärgernis des Abends ist der Dirigent Wolfgang Heinz, der das Staatsorchester Stuttgart in meist viel zu schnellem Tempo durch die schöne Musik Tschaikowskys hetzt – da gibt es zwangsläufig Ungenauigkeiten und Unsauberkeiten, auch in der Koordination mit den so schön singenden Kinderchören. Den Jubel des Publikums konnte das jedoch nicht groß beeinträchtigen – es feierte die Uraufführung, die beim Erscheinen Jürgen Roses auf der Bühne in standing ovations mündeten. Zu Recht.
 

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