Tschaikowsky
Das Leben: ein getanzter Roman
Das erste Mal war sozusagen die Urlesung in Salzburg. Zum zweiten Mal dann also die wesentlich überarbeitete Neuauflage in Karlsruhe. Und nun zum dritten Mal in der so gut wie ausverkauften Sonntagsnachmittagsvorstellung, abermals in Karlsruhe. Was reizt mich so besonders an diesem Ballett? Einmal die Thematik: das Leben Tschaikowskys, tänzerisch nacherzählt – so detailliert nacherzählt, dass man erst bei mehrmaligem Sehen die genauen biografischen Konstellationen durchschaut. Doch auch wer das nicht beim einmaligen Besuch schafft – und das ist natürlich die weitaus größte Mehrheit des Publikums –, kommt voll auf seine Kosten, denn es handelt sich um eine ungemein theatralische Produktion, die geradezu überquillt von Tanz und Musik – beides in engster Verzahnung. Hinzu kommt die fabelhafte Ausstattung, der transparente Notenkäfig, dass man den Eindruck hat, die Choreografie entspringt den Noten, die tollen Kostüme (bei der Modenschau allerdings etwas übertrieben) – auch wenn man bis zum Schluss herumrätselt, was die mehrfach bemühte transparente Bienenwabe für eine Funktion hat (die Puppe als Käfig, ein Raumschiff, der Altar eines Bordells?).
Ich bleibe dabei, es ist unter den mir bekannten das aktionsreichste aller abendfüllenden Ballette. Es bietet eher zu viel an Handlung – eine Überfülle, die einen schon in die zu spät disponierte Pause (der natürliche Einschnitt wäre nach der missglückten Hochzeitsnacht) mit einem Völlegefühl entlässt, dass man sich nach einem Alka Seltzer sehnt (und vollends dann am Ende nach der 170-Minuten-Vorstellung). Hier wären Kürzungen dringend angebracht. Zum Beispiel der Auftritt des Zaren-Trottels. Ziemlich enervierend auch die mehrfachen Schreikrämpfe der armen Antonina – und vollends das Irrenhausbild (trotz des genialen Dekors mit den in der Luft schwebenden Stühlen). Man möchte die Dramaturgie in die chemische Reinigung schicken, um sie von ihren Fettpolstern zu befreien. Eine Dreiviertelstunde könnte gut eingespart werden.
Auch der alternative Tschaikowsky, Alexandre Simoes, ist zu jung, zu unbedarft – ein exzellenter Tänzer, aber zu farblos als Charakter. Das ist überhaupt das Problem in Karlsruhe: es hat keine reifen Männer – das fiel schon bei „Anna Karenina“ auf, dann auch in „Carmen“ und eben jetzt wieder bei „Tschaikowsky“. In Karlsruhe wirken diese Ballette wie „Jeux d´enfants“. Wie wär‘s denn, wenn man dort einmal Matthias Deckert in diesem Fach ausprobierte? Oder einen Gast aus Stuttgart engagierte.
Diego de Paula ist wieder der sündige Engelsknabe. Yuhao Guo aber ein viel weniger fatalistischer Fatums-Tänzer als der markige Arman Aslizadyan in der Premiere. Anais Chalendard ist die welterfahrenere Frau von Meck, Blythe Newman diesmal die unglückselige Antonina (eine unsympathische Rolle, so oder so). Die beiden Mütter sind diesmal Pilar Giraldo (eine ihren Sohn beschützende Pietà) und Barbara Blanche (unbedingt entschlossen, ihre Tochter an den – leider falschen – Mann zu bringen). Admil Kuyler ist wieder der treu um den labilen Bruder bemühte Modest. Die ganze Produktion, sicher das ambitionierteste Projekt der Birgit-Keil-Truppe bisher, ist ein erneuter ermutigender Leistungsnachweis einer unserer eigenständigsten ‚mittelständischen‘ Ballettkompanien.
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