Verstörend faszinierend

Tanz-Performance „Nine Finger“ in der Hamburger Kampnagelfabrik

Hamburg, 20/10/2008

Schon die Ankündigung verhieß keine leichte Kost: Ausgangspunkt der Tanzperformance „Nine Finger“ ist der Roman „Beasts of No Nation“ von Izodinma Iweala, einem Amerikaner nigerianischen Ursprungs, der den Krieg mit den Augen eines Kindersoldaten beschreibt. Und so erwartete die Zuschauer der beiden Vorstellungen am 18. und 19. Oktober in der Hamburger Kampnagelfabrik ein verstörendes, aber auch faszinierendes Stück – dank seiner überragenden Darsteller: Fumiyo Ikeda (46), Béjart-Schülerin und seit 1983 bei Anne Teresa de Keersmaekers „Rosas“ eine der prägenden Charakterdarstellerinnen, sowie der zehn Jahre jüngere Benjamin Verdonck, politisch engagierter Performer aus Belgien. Ihr kommt eher die tänzerische Rolle zu, während bei ihm der sprechenden Part dominiert, aber immer im Zusammenhang mit Bewegung (auf Englisch). Zusammen mit dem Choreografen Alain Platel haben sie eine Performance erarbeitet, die unter die Haut geht.

Zu Beginn stehen beide weit voneinander entfernt im schwarz abgehängten, weitgehend leeren Bühnenraum. Ein großer Pappkarton steht herum, zwei mit Plastikfolie verschnürte längliche Pakete, das war’s. Vogelgezwitscher erfüllt den Raum, als Verdonck explosiv „Future“ und gleich danach „Death“ brüllt, sich Gesicht und Hals mit schwarzer Farbe beschmiert und den Raum grotesk verzerrt-zuckend durchmisst. Auch bei Fumiyo Ikeda ist jede Bewegung gebrochen, nichts ist mehr heil in dieser Welt. Begegnen sie sich, stürzen sie übereinander, purzeln zusammen in den großen Pappkarton. Er befreit sich wieder, versucht, sie, die wie ein nasser Sack willenlos in seinen Händen hängt, aufzustellen, aufzurichten – vergebens. Erst zu dem verfremdeten, mit leieriger Stimme gesungenen „Imagine“ von John Lennon findet sie wieder zu sich – gebrochen, perspektivlos, wie auch er.

„I am“ spricht Verdonck stets im Slang als „ahhm“ – von einem wahrnehmbaren „Ich“ ist da nichts mehr übrig. Und es ist todtraurig, wenn Fumiyo Ikeda einen englischen Schmuse-Popsong mit kaum wahrnehmbarer, gebrochener Stimme bruchstückhaft mitsingt, einsam, verloren, im Nichts. Oder wenn Verdonck zu dem ebenfalls verfremdeten „Satifsaction“ der Stones hilflos durch den Raum stolpert, sich das Hemd vom Leib reißt und den ganzen Oberkörper mit schwarzer Farbe beschmiert. „Everything is inside out“ schreit er. Und: „Ich möchte tanzen, aber weiß mein Körper noch, wie das geht?“ Und: „Ich möchte sterben. Aber wenn ich sterbe, bin ich tot. Also bewege ich mich.“ Am Schluss noch einmal der Schrei: „Future“. Der verzweifelte Ausruf: „Auch ich hatte einst eine Mutter, die mich liebte.“ Und: „Was werden Sie von mir denken?“ „Nine Finger“ ist eine erschütternde Collage aus Erlebnissen, wie sie Kindersoldaten in Afrika erleben. Ein Stück Realität, das uns nahebringt, was wir gerne von uns schieben: die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit und doch auch den unbändigen Lebenswillen dieser geschändeten Kinder.

 

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