Zaristische Reminiszenzen

Das Mariinsky-Theater Sankt Petersburg zeigt Oper und Ballett an der Bismarckstraße

Berlin, 06/10/2008

Feierte vor einem Jahr das Bolschoi-Ballett Moskau Unter den Linden Triumphe, so hat derzeit das Mariinsky-Theater für zehn Tage in der Deutschen Oper Domizil bezogen. Anlass ist das 225-jährige Bestehen der Petersburger Spielstätte, obwohl beide Kunstgattungen seit 1738 an der Newa aufgeführt werden. Zarengattin Maria Alexandrowna gab 1860 den Namen für das neue Gebäude. Valery Gergiev, seit 1996 Chefdirigent, Künstlerischer Leiter und Direktor des lange als Kirow-Theater firmierenden Hauses und selbst internationaler Pultstar, bietet Berlin mit 350 Akteuren ein erlesenes Programm aus drei russischen Opern, zwei Balletten und einer gemeinsamen Gala (6.10.) – begleitet vom eigenen Orchester. Tschaikowskys „Pique Dame“ (8.10.) rahmt das Mariinsky-Festival, Mussorgskys „Chowanschtschina“ (7.10.) um die Thronbesteigung Peters des Großen und Schostakowitschs nach der Uraufführung 1929 verfemte Satire „Die Nase“ bilden die Operntrias.

Auch im Ballett hat Tschaikowsky indes seine Nase weit vorn: Mit „Schwanensee“ präsentierte die Kompanie das Signaturwerk der Ballettklassik schlechthin. Bei einem auch zur Erbepflege verpflichteten Nationalensemble sind revolutionäre Neudeutungen rar. So fußt die Geschichte um Prinz Siegfrieds gebrochenen Treueschwur auf Konstantin Sergejews Fassung von 1950, entspricht ganz russischer Mentalität und hat Patina angesetzt. Erzählt wird rein märchenhaft, ohne das im heutigen Westeuropa übliche Bemühen um psychologische Deutung der Figuren und ihrer Beziehungen. Den Narren und Siegfrieds Erzieher Wolfgang, eine reine Spielrolle, tilgt man in unseren Breiten, weist Siegfrieds Mutter und seinem Freund Benno aktiv handelnde Parts zu. Und auch jenes den Repressionen der Stalin-Ära geschuldete Finale, das die Liebenden überleben lässt, entspricht weder der musikalischen Aussage noch Tschaikowskis Intentionen. So darf man sich an stimmungsvoller Szenerie aus Felsschloss, gotischem Säulensaal, Landschaft mit Seeblick, an detailgesättigten Kostümen und sehenswertem Tanz erfreuen, der Pantomime meidet, aber Pathos und Pose über Charakterisierung setzt. Weshalb gleich zwei Frauen, Odette und Odile, den Prinzen umgarnen, ist in Andrian Fadejews blasser Interpretation schwer begreiflich, während Alina Somowa in jenem Doppelpart technisch und darstellerisch brilliert, Ilja Kusnetsows Rotbart ein furioser Prachtkerl ist.

Auch wenn Pjotr Gussews Neueinrichtung von 1987 den in Europa selten gegebenen Dreiakter „Der Korsar“ (1856) mit seiner wirren Urhandlung strafft, ist er in dieser Form nur noch amüsante Reprise imperialen Balletts. Besonders gegen Ende setzt Gussew daher bewusst aufs übertrieben Groteske. Der Pirat Conrad darf da seine Geliebte Medora, die dem Schiffbrüchigen das Leben gerettet hatte, aber als Sklavin verkauft wurde, nach der Befreiung endlich heimführen: auf sturmumbraustem Segler in gefährlichem Flackerlicht. Orientalisches Flair im Geschmack der Entstehungszeit dominiert die Tänze und bietet den Interpreten in bezaubernd farbfrohem Ambiente virtuose Aufgaben. Hauptattraktion ist der Pas de deux der exorbitanten Viktoria Tereschkina als Medora mit zwei Partnern: Danila Korsuntsew als feurigem Conrad, Anton Korsakow als dezentem Sklaven, technisch fulminant beide. Wäre nicht die gefällig harmlose Musik gleich von fünf Autoren, hätte man an Können und Stilreinheit der weiteren Solisten und der Gruppe ungetrübtes Vergnügen.

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