Für Gérard
Am 14. Dezember verstarb Gérard Lemaître, der seit 1960 eine Schlüsselfigur des Nederlands Dans Theaters war.
Ein Interview mit Anders Hellström über seinen Rücktritt als Direktor des NDT
Im Oktober des letzten Jahres gab Anders Hellström bekannt, dass er nach der Spielzeit 2009/2010 von seinem Posten als Direktor des Nederlands Dans Theaters zurücktreten wird. Der Schwede Hellström, ehemals Tänzer im Hamburger und Frankfurter Ballett, leitete die berühmte holländische Kompanie seit Januar 2004, er war Nachfolger von Marian Sarstädt. Hartmut Regitz sprach exklusiv mit Anders Hellström über seine Gründe, das NDT nach sieben Jahren Direktionszeit wieder zu verlassen.
Anders Hellström, Ihr schwedischer Kollege Johan Inger hat nicht wirklich wissen können, was an Arbeit als Direktor des Cullberg Ballet alles auf ihn zukommt und hat deshalb zu Ende dieser Spielzeit gekündigt. Sie dagegen verfügten über Leitungserfahrung, als Sie den Job am Nederlands Dans Theater übernahmen. Warum geben Sie nach sieben Jahren auf?
Anders Hellström: Ohne die Erfahrung als Direktor des Göteborg Ballett hätte ich die Arbeit hier in Den Haag nie bewältigen können, insoweit stimme ich Ihnen zu. Aber ich gebe nicht auf. Ich kündige – und das hat ausschließlich mit mir zu tun, mit meiner Lebensgestaltung. Die Arbeit beim NDT beansprucht sehr, sehr viel Zeit, die meinem Privatleben verlorenen geht.
Also keine Entscheidung gegen die Kompanie. Sie wollen einfach wieder leben.
Anders Hellström: Eine solche Position zwingt einen, Prioritäten zu setzen. Man muss vieles zurückstellen, auf Dauer vielleicht aufgeben. Eine Zeit lang lässt sich möglicherweise sogar beides bewältigen, nicht aber auf Dauer. Natürlich sind die Menschen unterschiedlich beschaffen. Aber es gibt auch Unterschiede darin, wie man eine Kompanie leiten will. Es mag Direktoren geben, die gut delegieren können und sich dadurch Freiräume schaffen. Ich dagegen versuche immer präsent zu sein; mir ist das sehr wichtig, gerade innerhalb eines Teams. Eigentlich fühle ich mich sehr wohl. Die schweren Zeiten sind vorbei. Alles läuft gut. Ich habe eine tolle Truppe, habe neue Choreografen – ich weiß das alles und kündige deshalb meinen Abschied ja auch anderthalb Jahre vorher an. Ich will die Kompanie nicht sich selbst überlassen.
Gab es denn Zeiten, in denen Sie sich weniger gut gefühlt haben?
Anders Hellström: Ja, am Anfang. Wenn ein Choreograf wie Jiří Kylián seine Kompanie verlässt, der er so lange vorgestanden hat, schürt das begreiflicherweise Unruhe. Die Tänzer schienen geschockt, schließlich war Kylián für sie so was wie ein Übervater. Sie wussten nicht mehr weiter. Viele verließen die Truppe. Und die NDT-2-Tänzer wollten nicht in die Hauptkompanie wechseln – was letztlich gegen die Prinzipien verstieß, die einst zur Gründung des Junior Ensembles geführt hatten. Eine harte Zeit vor allem deshalb, weil es galt, die kreative Arbeitsatmosphäre wiederherzustellen. Wieder Neugier, Hoffnung, Lust zu wecken.
Nach Kyliáns Abschied wäre es für jeden direkten Direktionsnachfolger schwer geworden. Aber es war nicht so, dass Sie das NDT in einem ruinösen Zustand vorfanden?
Anders Hellström: Das nicht. Doch gab es genug Raum, sich zu beweisen.
Noch sind Sie Teil des Arbeitsprozesses. Für eine Bilanz wäre es also noch zu früh. Aber das NDT hat sich geändert. Was haben Sie dazu beigetragen?
Anders Hellström: Ich bin stolz auf meine Tänzer und wie sie denken. Sie fühlen sich nicht als Marionetten, sondern sind intelligente, talentierte, verantwortungsbewusste junge Leute; das ist mir sehr, sehr wichtig. Dass ich Crystal Pite und Johan Inger als Associate Choreographers verpflichten konnte, lässt mich für die Zukunft des NDT hoffen. Beide arbeiten kontinuierlich mit uns und kreieren in jeder Spielzeit je ein Stück. Auch sind mit mir Lightfoot/León, die beiden Hauschoreografen, wieder zurückgekehrt. Sie waren ein Jahr weg. Dazu kommen die vielen choreografischen Talente innerhalb unserer Tänzerreihen, die sich bisher innerhalb unserer Workshops beweisen konnten. Ihnen wollte ich mehr kreativen Raum geben. Also habe ich ein „UpComing Choreographer Project” eingerichtet, für das ich die Tänzer-Choreografen auswähle, die dann wirklich eine Unterstützung erfahren und nicht mehr nur in ihrer Freizeit arbeiten müssen. Jetzt kriegen sie ihr Honorar, ihre Arbeitszeit und richtige Bühnenproben. Einige haben sich dort so beweisen können, dass ich sie mit Arbeiten für NDT 2 beauftragt habe oder dass sie von anderen Kompanien eingeladen wurden.
Es gab auch strukturelle Veränderung. Als Sie kamen, gab es noch das NDT 3.
Anders Hellström: Als ich anfing, fand gerade die Premiere von Robert Wilson statt. Das Schicksal von NDT 3 zu besiegeln, war nicht einfach. Es war wie eine Amputation, um den Körper des NDT gesund zu erhalten. Eine schwere Zeit. Wir haben Tänzerstellen nicht mehr besetzt, haben Produktionen streichen müssen, die Verwaltung abgebaut. Das gesamte NDT geriet in Gefahr, nicht zuletzt auch durch die Kosten des NDT 3.
Konsolidierte sich denn das NDT durch den Verzicht auf das Senior Ensemble?
Anders Hellström: Es ist besser geworden. Nach der Rosskur, die wir durchmachen mussten, stehen wir wieder auf gesunden Beinen. Was nicht heißt, dass wir mehr Geld gut gebrauchen könnten.
Hat man Ihnen denn die Schließung von NDT 3 verübelt?
Anders Hellström: Ich weiß nicht. Sie war schon im Gange, als ich mein Amt angetreten habe. Ich habe den Prozess lediglich zu Ende gebracht, und das war schwierig genug.
Von den finanziellen Gründen mal abgesehen: Sind Sie der Meinung, dass sich das Projekt auch choreografisch erschöpft hat?
Anders Hellström: Ich finde die Philosophie von NDT 3 nach wie vor überzeugend und zu jener Zeit gänzlich ungewöhnlich in der zeitgenössischen Szene. Wir werden sicher mal wieder versuchen, das Projekt mit anderen Tänzern und neuen Choreografen wieder aufleben zu lassen.
Sie verlassen das NDT 2010. Zuvor feiern Sie das 50-jährige Jubiläum des Nederlands Dans Theater. Wie sieht, in groben Zügen, die Spielzeit aus?
Anders Hellström: Nur soviel: Wir beginnen mit drei Kreationen, an denen sich alle beide Kompanien beteiligen. Kylián macht eine für NDT 1, Inger arbeitet mit Tänzern beider Kompanien, und Lightfoot/León choreografieren ein neues Stück für NDT 2. Mit der Aufführung Ende Oktober wird gleichzeitig das Holland Dance Festival eröffnet, das diesmal das 50-jährige Bestehen des Nederlands Dans Theater im Rahmen eines NDT-Offspring-Festival reflektieren wird. Es gibt so viele Tänzer, die hier angefangen haben, so viele ehemalige NDT-Choreografen, die inzwischen ihre eigene Kompanie haben.
Sie hören auf, sind kein Choreograf und werden wohl nicht sofort wieder auf einen Direktionsstuhl steigen wollen.
Anders Hellström: Das ist nicht geplant. Wie es mit mir weitergeht: keine Ahnung. Natürlich habe ich ein paar Ideen im Kopf, aber die sind noch so abstrakt, um darüber etwas sagen zu können. Meine Entscheidung ist noch so neu, um konkrete Pläne zu unterbreiten.
Keine Anfragen?
Anders Hellström: Doch.
Um etwas über die definitive Zukunft des NDT sagen zu können, ist es noch verfrüht. Doch wie könnten Sie sich seine Zukunft vorstellen?
Anders Hellström: Ich möchte, dass das NDT so bleibt, wie es jetzt ist: mit diesen Tänzern, diesen Choreografen. Ich möchte auf keinen Fall, dass das NDT wieder in eine unruhige Phase gerät. Nicht zuletzt aus diesem Grund habe ich meine Kündigung so früh bekannt gegeben, damit Zeit bleibt, einen geeigneten Nachfolger zu finden. Ich bin allerdings nicht in den Findungsprozess involviert. Über die Besetzung des Direktionspostens befindet ein Aufsichtsrat.
Wo finden Sie Ihren Lebensmittelpunkt?
Anders Hellström: Ich habe kein Problem damit, irgendwo heimisch zu werden. Ich bin seit 1984 von zu Hause weg, habe erst in Hamburg, dann in Frankfurt getanzt. Ich muss nicht unbedingt nach Stockholm zurück, eine wunderschöne Stadt. Aber ich könnte mir gut vorstellen, in Deutschland zu leben. Hier in Holland ist es manchmal ein bisschen eng. So viele Menschen. Es gibt wenig Natur. Aber wie gesagt: Ich habe keine konkreten Pläne.
Aber dass Sie irgendwann mal wieder eine Kompanie leiten, schließen Sie für sich nicht aus?
Anders Hellström: Ganz kann ich diese Möglichkeit nicht ausschließen. Aber es gibt noch viele andere interessante Herausforderungen beruflicher Art.
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