Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
oder Die Geburt der Musik als ordnungsstiftende Macht
Wer wissen will, was in John Neumeiers neuem Ballett „Orpheus“ geschieht, informiert sich am besten bei Annette Bopps Besprechung vom 7.12., die den Ablauf der 160-Minuten-Produktion unter dem Titel „Die Essenz des Lebens“ genau geschildert hat. Bei mir hatte sie anfangs eher Skepsis ausgelöst. Angekündigt als „Orpheus“, fragte ich mich, wie soll das gehen, denn das „Orpheus“-Ballett von Strawinsky ist ja gemeinhin nur eins von drei Balletten in einem Programm. Dann aber hieß es unter den musikalischen Kredits zusätzlich: aus den Rosenkreuz-Sonaten von Ignaz Franz Biber. Und schließlich brachte noch ein weiterer Verweis auf ein Album „Orpheus the Lowdown“ von Peter Blegvad and Andy Partridge, elektronische Texte und Sounds aus der englischen Übertragung von Rilkes „Orpheus. Eurydike. Hernes“, als dritte musikalische Quelle ins Spiel.
Neumeier arbeitet also in seinem „Orpheus“ auf drei Ebenen, die er dramaturgisch äußerst geschickt miteinander vernetzt hat. Akkompagniert von den mit feinster Sensibilität spielenden Philharmonikern Hamburg unter dem jungen australischen Dirigenten Simon Hewett, der die beiden Strawinsky-Partituren souverän im Griff hat, mit Rüdiger Lotter, der als Violinsolist in die Choreografie einbezogen ist. Im Übrigen zeichnet Neumeier neben der Choreografie auch selbst für Kostüme und Lichtkonzept verantwortlich, mit Ferdinand Wögerbauer als Bühnenbildner des mit einem riesigen (Mykene?)-Tor bestückten Raums, das gehoben und gesenkt und auch gekippt werden kann, und hinter dessen Milchglasscheiben sich der Hades befindet.
Die beiden Teile zu Strawinskys „Apollon musagète“ und „Orpheus“ teilen die Vorstellung in zwei Hälften, die mit einer Art Prolog als „Ort der Bestimmung“ im Blau des Universums als Geburt des Orpheus mit seinen Eltern Apollo (Edvin Revazov) und Kalliope (Anna Laudere) und seiner Unterweisung im Violinspiel beginnt und dann „Auf Erden“ spielt, mit der Begegnung der beiden Liebenden, wobei sich Orpheus als Straßenmusiker betätigt und Eurydike bei einem Autounfall ums Leben kommt. Geleitet vom Seelenbegleiter Hermes (Yohan Stegli) begibt sich Orpheus sodann auf seine Reise ins Schattenreich, wo er sich mit seinem Violinspiel den Zutritt verschafft, Eurydike wiederbegegnet, es zu dem fatalen Blickkontakt kommt und er Eurydike endgültig verliert und allein mit seinem Violinspiel zurückbleibt, dessen Klänge über seinen Tod hinaus als Ordnung stiftende Macht fortleben.
Es ist kaum zu glauben, wie Neumeier sein erzmusikalisches Konzept den beiden Strawinsky-Partituren anpasst, wie nahtlos die Dramaturgie (und auch die Bühnentechnik) funktioniert und wie die beiden Hauptdarsteller Otto Bubeníček und Hélène Bouchet in ihren Rollen aufgehen. Faszinierend ist auch der Reichtum ihrer tanzschauspielerischen Mittel, so dass man keine Sekunde gelangweilt ist, sondern ihren Aktionen mit äußerster Spannung folgt. Dies ist eine ganz moderne Interpretation des Orpheus-Mythos – weit ab von allem was ich bisher etwa von Mary Wigman, von Balanchine bis zu Pina Bausch und Christian Spuck gesehen habe. Hier ist Neumeier etwas geglückt, wovon wir alle 1962 bei der Hamburger Strawinsky-Ehrung mit „Apollon“, „Orpheus“ und „Agon“ geträumt haben, nämlich die Vervollständigung von „Apollon“ und „Orpheus“ zu einem abendfüllenden Stück über den antiken Mythos. Auch wenn ich mich mit den elektronischen Einschüben und dem viel zu vielen nichtverständlichen Text nicht sonderlich befreunden kann (wäre Pierre Henrys „Orphée“, 1958 von Béjarts Kompanie uraufgeführt, hier nicht eine stimmigere Ergänzung gewesen?), bin ich von Neumeiers radikaler Anverwandlung der mythischen Vorlage hellauf begeistert – und von dem Reichtum seiner Choreografie sowieso (mit zahlreichen Zitaten beispielsweise von Balanchine aber auch von ihm selbst („Endstation Sehnsucht“).
Fast ein halbes Jahrhundert nach jenem Hamburger Strawinsky-Red-Letter-Day (noch in der Liebermann-Ära) ist hier eine singuläre ballettgeschichtliche Tat vollbracht worden: ein Meisterwerk aus der Hamburger Neumeier-Factory. Dass Neumeier die Produktion ursprünglich für die Salzburger Festspiele geplant hatte – mit Roberto Bolle als Protagonist, der leider verletzungshalber die Proben abbrechen musste, was sich als kein Problem für Bubeníček erwies, der sich hier nach seinem Nijinsky im Hamburger „Pavillon d‘Armide“ erneut als einer unserer markantesten Tänzerschauspieler behauptete –, verlangt noch eine gesonderte Nachbetrachtung, die ich dann wieder von Stuttgart aus zu übermitteln hoffe.
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