Das XXX. Pogramm

Martin Schläpfer verabschiedet sich von Mainz

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Mainz, 20/05/2009

Die Parallelen sind verblüffend! Von 1953 bis 1954 avancierte das bis dahin herzlich anonyme Wuppertal plötzlich zur Ballettstadt: elf Spielzeiten lang hatte dort der junge Choreograf Erich Walter mit seinem Lebenspartner Heinrich Wendel zusammen als Ausstatter der Stadt zu überlokalem Ballettrenommee verholfen – auf der Basis eines erzmusikalischen, grundsoliden, am Vorbild des New York City Ballet geprägten Neoklassizismus. Als Walter in Wuppertal als Ballettmeister begann, war er 24 Jahre alt, ein ziemlich unbeschriebenes Blatt, der sein Handwerk als Tänzer an verschiedenen kleineren Theatern erworben hatte. Zur Spielzeit 1964/65 übersiedelten dann Walter und Wendel mit ihrem Wuppertaler Intendanten Grischa Barfuss zusammen an die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf/Duisburg, wo sie ihre Arbeit, bis dahin exklusiv von Walter choreografierte Ballette, im größeren Stil – Einbeziehung der Klassiker, viel Balanchine, von den jüngeren Kollegen vor allem van Manen, fortsetzten.

Zur Spielzeit 1999/2000 kam Martin Schläpfer, ein Schweizer, der, hervorgegangen aus dem Basler Ballett von Heinz Spoerli, mit ersten choreografischen Erfahrungen in Bern, nach Mainz und erarbeitete dort in zehn Spielzeiten dreißig Programme – in denen er sich als große Hoffnung des deutschen Balletts profilierte. Anders als Walter in Wuppertal, konnte er bereits auch Kollegen zur Mitarbeit nach Mainz einladen, so dass sein Repertoire auch Arbeiten von Balanchine, Jooss und Tudor einschloss, vor allem aber von van Manen sowie ein paar Altersgenossen. Wenn er zur nächsten Spielzeit an die Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf/Duisburg überwechselt, ist er 47 Jahre alt – ein erzmusikalischer Profi durch und durch, mit einem durch zahlreiche Anverwandlungen bereicherten klassischen Grundvokabular, um den sich die deutschen Opernintendanten reißen, und der in Mainz ein um ihn trauerndes Publikum zurücklässt.

Seine letzte Mainzer Premiere teilte er sich mit van Manen und – erstmals mit einer Einstudierung bei einem deutschen Ballett vertreten (nur Zürich war Mainz zuvorgekommen) – Twyla Tharp, der vielbegehrten amerikanischen Tanz-Comedienne vom Jahrgang 1942. Offensichtlich wurde an diesem Abend, wie sehr das Publikum sein „ballettmainz“ ins Herz geschlossen hat. So sehr hat Schläpfer seine Mainzer Tänzer perfektioniert, dass man bei Tharps „In the Upper Room“ den Eindruck gewinnen konnte, es bereits mit der Nachfolgekompanie zu tun zu haben.

Er selbst hatte die Uraufführung des Abends beigesteuert: das zusammen mit seinem bevorzugten englischen Komponisten Paul Pavey erarbeitete, etwas willkürlich betitelte „5“ für zehn Tänzerinnen und Tänzer, darunter so ausgesprochen Mainzer Lokalmatadore wie Marlúcia do Amaral und Yuko Kato, Igor Mamonov und Jörg Weinöhl, die sich zu den elektronisch aufbereiteten Nebelhorn-Klängen von Pavey in allerlei ritualistischen Exerzitien ergehen. Sie wirken wie eine leicht degenerierte Vogelschar, die gerade mit den Münchner „Zugvögeln“ von der Isar an den Rhein herübergeweht sind – ein Eindruck, der durch die Kostüme von Catherine Voeffray mit ihrer Teilung in nackte Haut und mit Federn, Haarteilen und Pelzen bestückten Bodyapplikationen hervorgerufen wird. Ich hätte mir von Schläpfer zum Abschied von Mainz etwas Lokalinspirierteres gewünscht!

Danach wirkte van Manens doppelter Pas de deux „Simple Things“ für Bogdan Nicula und Remus Şucheană, für do Amaral und Kato, zu pfiffig aufgemotzten Musikstücken von Guy Klucevsek, Alan Bern, Joseph Haydn und Peteris Vasks, wie eine kultivierte Konversation für ein Tänzerquartett. Wobei einer dem oder der anderen immer die Pointe zuspielte, die exakt symmetrisch beantwortet wird. Kann man sich das vorstellen: eine Konversation, die ganz ohne Worte auskommt und sich als ein überaus geistreicher argumentativer Dialog entwickelt? Das spult sich choreografisch so brillant formuliert ab, so aufeinander eingehend und schlagartig erwidernd, als ob der Autor Marivaux – oder um einen heutigen Kollegen zu nennen, Botho Strauß – hieße. Man wünschte sich, dass viele heutige Dialoge auf diese kultivierte Weise geführt würden – zum Beispiel die Wahlkampf-Duelle etwa von Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier – auch wenn die dafür erst mal ein Training in einem Ballettstudio absolvieren müssten.

Und so also zu dem Smash-Hit von Twyla Tharps „In the Upper Room“, das von Philip Glass’ einlullenden Klängen aus dem Nichts auf diese nebelnde Bühne gespült wird und sich dort in einer wunderbar leichten Lässigkeit treiben lässt, seine roten Farbakzente (Norma Kamali) wie in einem Kartenspiel setzend. Wie Gummibälle prallen die Tänzer über die Bühne, einander ansteckend und ihre Energien weitergebend. Sieben Tänzerinnen und sechs Tänzer des „ballettmainz“ servieren das so nonchalant, so hüftschwenkend und mit kichernden Gliedmaßen, als praktizierten sie das täglich auf der Großen Bleiche von Mainz, sozusagen vom Mainzer Great White Way. Surprise, surprise, wie Martin Schläpfer es geschafft hat, seine Mainzer Tänzertruppe in zehn Jahren so zu schleifen, dass die „Enyclopedia Britannica“ ihr Mainz-Stichwort „Although industrialization came late, its manufactures are highly diversified, including chemical and pharmaceutical products, machinery, glassware and musical instruments“ 2009 um ein „and dancers“ ergänzen müsste.

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