Der Spätromantik anverwandelt

Heinz Spoerlis neue „Raymonda“

Zürich, 02/11/2009

Nur keine Minute den Gedanken an den alten russischen Ausstattungsschinken aufkommen lassen, so scheint sich Heinz Spoerli bei seiner neuen Zürcher „Raymonda“ gesagt zu haben. Fast ohne Atemholen eilt er durch die Geschichte des Edelfräuleins zwischen zwei Männern, scheint geradezu auf der Flucht vor den ewig langen Entrées, den Pantomimen und Nationaltänzen, so nahtlos gestaltet er in seiner Dramaturgie die Übergänge zwischen den Bildern, so plausibel erzählt er die (dennoch wenig aufregende) Geschichte, mit so viel Tanz wie nur möglich. Luisa Spinatelli hat ihm dafür eine luftig offene, unverstellte Bühne entworfen, optisch dominiert von Gobelindarstellungen aus dem Jugendstil und nach außen begrenzt von schlanken, schwarzen Säulen. Erst der letzte Akt entwickelt mit einem gemalten goldbraunen Saal etwas Prunk, der aber dezent im Hintergrund bleibt. Aus der Ritterwelt – das Werk spielt eigentlich im 13. Jahrhundert zur Zeit der Kreuzzüge – hat Spoerli das letzte Handlungsballett des großen Marius Petipa in seine Entstehungszeit um 1900 verlegt; die Männer tragen graue Uniformen oder Mäntel (manche Ensembleszenen erinnern rein optisch an die Polonaise aus Crankos „Onegin“), die Würdenträgerinnen des Hofes scheinen den Bildern der Präraffaeliten entsprungen.

Gleich im ersten Bild – genau wie in Ray Barras Münchner Version fasst Spoerli den zweiten und dritten Akt zu einem zusammen – finden wir uns auf einem Kadettenball wieder, wo die jungen Herren zwar mit den Händen auf dem Rücken ihre ritterliche Haltung demonstrieren, die jungen Damen in ihren schwingenden Kleidchen aber dennoch ein wenig backfischhaft, wie Debütantinnen wirken. Wie Heinz Spoerlis andere Klassiker-Adaptionen sieht das alles sehr schön aus, edel und zurückhaltend, elegant, geschmackvoll und doch ein wenig kühl und steril - vielleicht braucht „Raymonda“ eine Prise russischen Plüschs, um wirklich stilecht zu wirken, oder vielleicht kennt man das Stück von zu vielen russischen Videos. Rein dramaturgisch jedenfalls treibt der Zürcher Ballettchef dem Stück jede Langeweile aus, indem er rein schmückende Divertissements wie die Nationaltänze im 3. Bild komplett weglässt, indem er die Choreografie für die Männer stark erweitert und dabei bei aller Virtuosität subtil im Stil des Werkes bleibt, und indem er neben den überlieferten Schritten von Petipa (in sämtlichen Variationen der Titelheldin und im letzten Bild) durch die neu choreografierten Pas de deux für eine gewisse dramatische Spannung in diesem etwas blutleeren Klassiker sorgt. Dafür verwendet er oft die spätromantisch getönten Entr’acte-Nummern aus Alexander Glasunows Partitur, die mit ihrem symphonischen Atem und der schönen Instrumentation einen besseren Nachruhm verdient hätte. Michail Jurowski und das Zürcher Opernhausorchester tun ihr Möglichstes dafür.

Die Wahl zwischen dem dunklen Sarazenenfürsten Abderachman und dem braven Jean de Brienne dürfte Raymonda hier eigentlich nicht schwerfallen. Denn im Gegensatz zu der strahlend weißen, fast überirdischen Erscheinung, die zum Beispiel Juri Grigorowitsch in seiner Bolschoi-Fassung aus dem edlen Ritter macht, ist Jean de Brienne hier nahezu ein Beamter, stilvoll und edel, aber ein wenig schwerfällig getanzt von Stanislav Jermakov. Auf der anderen Seite lockt mit Vahe Martirosyan ein sinnlicher, stolzer und viel spektakulärer tanzender Macho, der sich anfangs auch noch ordentlich benimmt – statt des gierigen Räubers sehen wir den Typus des edlen Wilden, der Raymonda voll Verehrung in zahlreichen Überkopfhebungen erhöht, wogegen die geführten Pirouetten von Jean doch arg betulich wirken.

Spoerli zitiert all die stolzen Posen des Ballett-Exotismus aus „Le Corsaire“ oder „La Bayadère“ und hat eine tolle Rolle für einen großartigen Darsteller entworfen (wer lädt den Armenier mal als Onegin ein?). Nach einem spannenden, weil getanzten Kampf zwischen den beiden Rivalen muss Abderachman hier freundlicherweise nicht sterben, sondern wird von zwei Männern in Uniform abgeführt, was zwar auf zivilisierte Umgangsformen schließen lässt, aber doch ein wenig wie lustige Polizisten aussieht. Raymonda, bis dahin schwer beeindruckt von dem sinnlichen Verführer, bekennt sich nur durch sanften Druck der Weißen Dame (und mittels des leitmotivartig verwendeten Schals) zu ihrem Ritter – und hat Abderachman im letzten Bild bei der Hochzeit schon vergessen, so fröhlich strahlt Aliya Tanykpayeva hier wieder, obwohl Spoerli seine Titelheldin über den Verlust des Sarazenen vorher mehrmals stark in Zweifel kommen ließ. Tanykpayeva, die vom Wiener Staatsopernballett nach Zürich kam, besticht vor allem durch ihre blitzsaubere Fußarbeit in den traditionellen Choreografien; ihre strahlende Raymonda erinnert eher an ein junges, frisches Dornröschen als an die fraulichen, in sich ruhenden Interpretationen der großen russischen Ballerinen. Im Pas classique hongrois fehlt es ihr nicht an Können, aber leider an der königlichen Haltung von Schultern, Hals und Kopf.

Galina Mihaylova und Maria Seletskaya, weniger Vittoria Valerio beeindrucken in ihren souverän interpretierten Solovariationen, auch Sarah-Jane Brodbeck als weiße Dame bekommt eine eigene klassische Variation im zweiten Akt. Als befreundete Troubadoure sorgen Arsen Mehrabyan und Arman Grigorian immer wieder für hochvirtuose Einlagen, das technische Niveau der Zürcher Kompanie und ihre musikalische Homogenität sind nach wie vor bestechend. Die großen Szenen fürs Corps de ballet hat Spoerli geometrisch einfallsreich choreografiert, aber in der Architektur nicht ganz so raffiniert wie das, was man an solchen Nummern von Marius Petipa kennt (der eine deutlich größere Bühne zur Verfügung hatte als die im Zürcher Opernhaus). Den Valse fantastique in Raymondas Traum ersetzt der Zürcher Ballettdirektor durch Glasunows Valse de Concert op. 47, die Szene spielt auf einer faszinierend beleuchteten, nachtblauen Bühne voller Wolken. Insgesamt hat Heinz Spoerli dem strengen, klaren russischen Stil ein wenig mehr Elan mitgegeben, ihn mit einer etwas weicheren, fließenderen Ballettklassik ganz sanft dem moderneren Ton der Spätromantik anverwandelt, der in Glasunows Musik bei all ihren tanzgerecht bereiteten Walzern, Variationen oder Galopps immer wieder durchklingt.

www.opernhaus.ch

www.spoerli.ch

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