Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
Das Jenseits ist dunkelblau. Ein sattes, tiefes Dunkelblau. Beruhigend ist diese Farbe, magisch auch. Mit diesem Blau beginnt „Orpheus“, die jüngste Kreation von Hamburgs Chefchoreograf und Ballett-Intendant John Neumeier. Aus der Tiefe dieses Blaus erhält Orpheus von Hermes, dem Götterboten, die Geige – Sinnbild der Kunst und des vollkommenen Instruments. Orpheus wird diese Geige als Pfand hergeben, wenn er in das Blau des Hades eintaucht, um Eurydike ins Reich der Lebendigen zurückzuholen, und er wird sie nach dem Scheitern dieser Aktion wiederbekommen – aus der Hand des Künstlers im Leben, dem Violinisten Rüdiger Lotter (der die Orpheus charakterisierenden Solopartien zu Musik des Barock-Komponisten Heinrich Ignaz Franz Biber meist auf offener Bühne spielt). Die Transformation der Kunst durch Liebe und Verlust – das ist das Hauptthema von Neumeiers „Orpheus“. Wie oft mag er selbst diese Transformation erlebt haben im Laufe seines Lebens? Dieser „Orpheus“ ist jedenfalls auch die Essenz eines reichen Choreografenlebens, und mit seiner Ruhe und Tiefe entfaltet das Stück – auch dank seiner beiden ganz und gar großartigen Solisten Otto Bubeníček als Orpheus und Hélène Bouchet als Eurydike – nach und nach einen fast magischen Sog, der einen fühlen und ahnen lässt, was in einem Künstler bei einer solchen Transformation vorgeht. Ein Meisterwerk.
Dabei war es eine Zitterpartie, wie und ob diese Uraufführung überhaupt stattfinden würde – musste doch zwei Wochen zuvor der Protagonist das Handtuch werfen. Roberto Bolle, Étoile und einer der besten derzeitigen Danseurs nobles weltweit, den John Neumeier als Gast von der Mailänder Scala für diese Rolle auserkoren hatte, musste sich akut einer Operation unterziehen, die es ihm unmöglich machte, die erste „Orpheus“-Serie bis zu den Weihnachtstagen zu tanzen (zu welchem Zeitpunkt er die Rolle übernehmen wird, steht noch nicht fest). Und so sprang Otto Bubeníček ein, schon bis dahin als alternative Besetzung vorgesehen. Was es bedeutet, innerhalb von zwei Wochen ein Stück von gut zweieinhalb Stunden Dauer zu lernen (und es gibt so gut wie keine Szene, wo Orpheus NICHT auf der Bühne steht!), wofür normalerweise mindestens zwei Monate zur Verfügung stehen, das vermag man sich kaum vorzustellen. Bubeníček, der selbst schon manches Mal auf einen großen Auftritt verzichten musste, weil er verletzt war, schaffte das Kunststück. Und nichts, wirklich gar nichts, deutete dann in der Premiere daraufhin, dass er eigentlich „nur“ der Ersatz-Orpheus war – „Orpheus“, das ist sein Stück, seine Rolle, er, der ja auch selbst als Musiker, Komponist und Arrangeur arbeitet, IST Orpheus.
John Neumeier wäre, so sagt er selbst, „nie auf die Idee gekommen, gerade diesen Stoff jetzt zu bearbeiten“, wäre da nicht die Einladung von Jürgen Flimm gewesen, das Stück bei den Salzburger Festspielen 2010 zu präsentieren. Und er hätte es vielleicht auch nicht gemacht, wäre da nicht das „unbeschriebene Blatt“ Roberto Bolle gewesen – dem Hamburger Publikum als Armand in „Die Kameliendame“ in der legendären Abschiedsvorstellung mit Alessandra Ferri vertraut. Roberto Bolle, der noch nie mit einem Choreografen ein Stück neu erarbeitet hat, der immer nur tanzte, was andere vor ihm schon zigfach gezeigt hatten, das allerdings meist grandios. Mit ihm, diesem wohl „jungmännlichsten“ unter allen großen zeitgenössischen Tänzern, zu arbeiten, reizte Hamburgs Chefchoreografen: „Roberto Bolle ist ein sehr ernsthafter Künstler, für den die Kunst selbst und nicht sein eigener Ruhm im Vordergrund steht“, sagt John Neumeier. „Er verlangt viel von sich selbst, er schont sich nicht, er kannte in den Proben keine Grenzen. Hinter seiner Männlichkeit verbirgt sich etwas fast Kindliches – das hat mich sehr gerührt.“ Aber dann machten die Nachwehen einer Verletzung einen Strich durch die Rechnung. Und auch Salzburg sagte ab (die Gründe, so Neumeier auf der Ballett-Werkstatt vor einer Woche, waren „so trivial, dass ich sie schon wieder vergessen habe“...) – was den Hamburger Ballettchef dennoch nicht davon abhielt, sein jüngstes Werk zu vollenden.
Und wie er es vollendete! Er verzichtet auf jede Art von Effekthascherei und spürt den Fragen, die das Stück aufwirft, ganz auf den Grund, um nur das Pure, Reine, Weise herauszuarbeiten, die große Linie in dieser Geschichte. Orpheus, von den Eltern – dem Musengott Apollo und der Muse Kalliope – reich beschenkt mit der Gabe absoluter Musikalität, widmet sich der Kunst, hat Erfolg, begegnet Eurydike. Diese stirbt einen Unfalltod, kurz nachdem sie Orpheus begegnet ist. Er wird schier wahnsinnig vor Schmerz über den Verlust der Geliebten, die Götter haben Erbarmen, er darf Eurydike aus der Unterwelt zurückholen. Der Rest ist bekannt: Er schafft es nicht, sie nicht anzuschauen auf dem Weg zurück nach oben. Sein Blick, sein Kuss bedeuten den endgültigen Verlust. Und doch wird Eurydike immer da sein, wird sie ihn stets begleiten, denn es kommt nicht darauf an, zu besitzen, zu haben, sondern zu erleben, zu sein – wie kurz oder lang auch immer. Die Dauer der Beziehung ist bedeutungslos, was zählt, ist nur das Erlebnis selbst, auch und gerade in seiner Flüchtigkeit.
Hélène Bouchet verkörpert die Transzendenz der Eurydike mit ihrer unglaublich feinen Langgliedrigkeit und Ästhetik wie keine zweite. Sie ist ganz da, ganz Liebe und Hingabe, und ebenso flüchtig im Moment des Verlusts, wie hingehaucht löst sie sich auf ins Nichts und bleibt doch in der Intensität ihres Wesens stets da. Bubeníček verleiht seinem Orpheus eine Kraft und Tiefe, die das ganze Stück hindurch trägt. Seine Präsenz und Intensität machen den Künstler menschlich, an ihm ist so gar nichts Künstliches, er hat die Naivität, das Staunen, und er hat auch die Reife, die Weisheit, das Wissen. Neben den beiden brillieren auch Yohan Stegli, der seinen Hermes sehr diskret gestaltet, ihm aber doch auch einen Hauch Dämonisches einflüstert, sowie Edvin Revazov als Apollo und Anna Laudere als Kalliope. Und auch das Corps de ballet gestaltet die schwierigen Gruppenarrangements kongenial – in schlichten, eleganten Kostümen (die Neumeier selbst entworfen hat).
Perfekt auch das Bühnenbild und die Zusammenstellung der Musik. Ferdinand Wögerbauer stellte als einzige Requisite ein großes Tor auf die Bühne – Sinnbild der Transformation schlechthin –, das es jedoch in sich hat. Es vermag sich den verschiedenen Bedingungen großartig anzupassen, im Hades, den ein transparente Milchglasscheibe von der Oberwelt trennt, wird es sogar zum Spiegel, vor allem aber gibt es den Tänzern den Raum, den sie brauchen, um sich ganz entfalten zu können. Als Musik wählte Neumeier für den ersten Teil Strawinskys „Apollon Musagète“, eine fast ätherisch feine Musik, die die Hamburger Philharmoniker unter Simon Hewett ebenso delikat spielen wie später im zweiten Teil Strawinskys „Orpheus“. Rüdiger Lotter spielt die Auszüge aus den Rosenkranz-Sonaten des Barock-Komponisten Heinrich Ignaz Franz Biber mit einer wunderbar zurückgenommenen Schlichtheit und doch bezwingender Intensität, integriert in das tänzerische Geschehen. Den Tod Eurydikes und später ihren Verlust durch Orpheus‘ Blick charakterisiert Neumeier mit den elektronischen Arrangements von Peter Blegvad & Andy Partridge aus dem Album „Orpheus the Lowdown“ – die zu den ins Englische übersetzten Texten von Rilke dem Stück eine weitere, höchst aktuelle Dimension eröffnen. Fazit: Hamburg hat hier ein Kleinod mehr im Repertoire.
Weitere Vorstellungen: 8., 9., 10. Dezember 2009, 7., 15., 16., 21. Januar 2010, sowie im Rahmen der Ballett-Tage am 25. Juni 2010.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments