Ein überfälliges Thema
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Der eher philosophische Titel „Wäre heute morgen und gestern jetzt“ passt gut zu Heinz Spoerlis jüngstem Werk – in seiner Zwischenstellung zwischen Konkret und Abstrakt. Die Uraufführung am 22.April am Zürcher Opernhaus zeigte einmal mehr ein „handlungsloses Handlungsballett“. Das war schon bei Spoerlis früheren abendfüllenden Werken zu Musik von Johann Sebastian Bach der Fall: „In den Winden im Nichts“ (2003), „Und mied den Wind“ (1999) – beide zu je drei Suiten für Violoncello Solo - sowie „Goldberg-Variationen“ (1993) zur gleichnamigen Klavierkomposition. Außer „Und mied den Wind“ stehen zurzeit Spoerlis sämtliche abendfüllenden Bach-Kreationen im aktiven Repertoire des Zürcher Balletts.
Während die drei älteren Ballette mit einem einzigen musikalischen Solisten auskommen – einem Cellisten oder einem Pianisten - singt und spielt diesmal im Orchestergraben eine ganze Korona: Das Barockensemble „La Scintilla“, gebildet von Mitgliedern des Opern-Orchesters Zürich, sowie zehn Gesangssolisten aus dem gleichen Haus oder dem Internationalen Opernstudio. Sie werden vom renommierten Dirigenten Marc Minkowski zusammengehalten – mit ein Garant für das hohe Niveau der neuen Produktion.
Diese besteht aus zwei Teilen, wird aber ohne Pause gezeigt. Die erste Hälfte beruht auf Bachs Allemande aus der Solo-Partita für Flöte a-Moll, gefolgt vom Brandenburgischen Konzert Nr.3 G-Dur und allen vier Sätzen der Solo-Sonate für Violine in g-Moll (energisch gespielt von Ada Pesch, der Leiterin von „La Scintilla“). Dazwischen erklingen zwei Arien aus den Kantaten „Wo soll ich fliehen hin“ und „Ich habe genug“. Die zweite Hälfte des Balletts stützt sich ausschließlich auf Bachs „Magnificat“ D-Dur in zwölf Sätzen. Unter den zehn Sängern zwischen Sopran und Bass wirken Malin Hartelius, Wiebke Lehmkuhl, Javier Camarena und Reinhard Mayr mit.
Das Eröffnungsbild in Weiß-Grau-Schwarz verbreitet eine zauberhafte Stimmung. Acht Frauen in luftiger Kleidung sitzen auf Würfeln, mehrere Männer schreiten mit Lampion-Ballons herum. Ein paar flinke Enchaînements – und weg sind die Tänzerinnen und Tänzer. Doch sie kehren wieder für neue Einsätze. Nach knapp 80 abwechslungsreichen Minuten finden sich die rund 40 Mitwirkenden des Zürcher Balletts und der Junior Company zum Schlussbild zusammen. Sie bewegen sich jetzt äußerst lebhaft, entschlossen, bringen eine selbsterrichtete Mauer zum Einsturz. Dazu erklingt das „Gloria Patri“ aus dem Magnificat. Zwischen Anfang und Schluss entfalten sich Pas de deux, Pas de trois, reine Frauen- und Männergruppen, weitere Ensembleszenen. Am meisten bewegt das Dreigestirn Yen Han, Arman Grigoryan und Vahe Martirosyan. Seine oft architektonisch wirkenden Auftritte sind die spannungsreichsten, schönsten Szenen im ganzen Stück, mit Höhepunkt in der auch musikalisch herausragenden Arie „Ich habe genug“. Gemeint ist: Genug von dieser Welt, weil das Jenseits so voller Hoffnungen und Verlockung ist.
Eigenwillig gestaltet und gut interpretiert auch die je zwei Pas de deux von Galina Mihaylova/ Filipe Portugal (elegisch, verschlungen) und von Ana Carolina Quaresma/ Iker Murillo (distanziert, widerborstig). Weniger dankbar, weil manierierter, sind die Rollen des stark beschäftigten Frauentrios Sarah-Jane Brodbeck, Juliette Brunner und Nora Düring. Wogegen manche Männerszenen – wie oft bei Spoerli – tänzerisch spektakulär wirken. Und zwischen den verschiedenen Szenen eilen immer wieder die Tänzerinnen und Tänzer des Corps auf die Bühne. Sie bilden Reihen, Ringe, Kreuze oder mimen Volksaufläufe. Insgesamt beschäftigt das Stück rund 40 Tänzerinnen und Tänzer. Getanzt wird neoklassisch. Alle Frauen tragen Spitzenschuhe. Im Brandenburgischen Konzert erinnern sie mit ihren hochgeworfenen Beinen und raschen Drehungen an kühle Balanchine-Ballerinen. Später bekommt man angenehm zu spüren, dass sie auch persönlichere Bewegungen ausspielen können. Die Männer bringen zum Neoklassizismus ohnehin eine zeitgenössische Zusatzportion an Kraft und Bodennähe mit. Ein bisschen Nonchalance kommt hinzu, wenn die Tänzerinnen ihre Enchaînements in Gleitpartien auf flachen Sohlen über die Bühne enden lassen. Sie tun das mit Lust.
Im ersten Teil des Balletts mit den vermischten Musiksätzen fällt der Tanz etwas frischer und farbiger aus als im abgehobeneren zweiten Teil zum „Magnificat“. Der (lateinisch gesungene) Text dieser Kirchengesänge stammt aus dem Lukas-Evangelium, lobpreist Gott und die Dreieinigkeit. Spoerlis Choreografie arbeitet aber kaum mit christlichen Elementen. Höchstens, dass man zuweilen einen Messias oder eine Marienfigur zu erkennen glaubt. Wenn überhaupt religiöse Anspielungen erfolgen, etwa bei den andächtig liegenden Gestalten gegen Schluss des Balletts, dann kann das auf irgendeine Glaubensgemeinschaft hinweisen.
Trotz dem Jonglieren zwischen Weltanschauungen und Tanzstilen wirkt „Wäre heute morgen und gestern jetzt“ wie aus einem Guss. Zur klaren Aesthetik des Werks trägt die Ausstattung von Peter Schmidt bei. Er gestaltet die Bühne wie einen großen Museumsraum, bestückt ihn mit wenigen verschiebbaren Requisiten. Einmal senken sich Röhren mit Spotlampen so nahe zum Boden, dass sie wie Säulen eines Tempels wirken. Bühnenbild und Kostüme kommen ohne schwülstigen Barock aus. Sie wirken so zeitlos, wie sich das im Balletttitel ausdrückt: „Wäre heute morgen und gestern jetzt.“ – Die Uraufführung am Opernhaus Zürich kam beim Publikum sehr gut an. Gloria!
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