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Heinz Spoerli choreografiert „Lettres Intimes“ zu Janáčeks zweitem Streichquartett
Das Zürcher Ballett zeigt neu ein dreiteiliges Programm zu Musik aus dem 20. Jahrhundert. Es tanzt zwei legendär bewährte Stücke der heiteren Art: Twyla Tharps mitreißendes Ballett „In the Upper Room“ (1986) mit der Musik von Philipp Glass sowie Hans van Manens „Sarcasms“ (1981) zu Sergej Prokofjews gleichnamigen Klavierstücken. Sarah-Jane Brodbeck und Stanislav Jermakov tanzen van Manens ironischen Pas de deux brillant.
Schwerere Kost bringt die Uraufführung des Abends. Heinz Spoerli, Chef des Zürcher Balletts, hat erstmals in seiner Karriere Musik von Leoš Janáček (1854-1928) choreografiert. Und zwar das Streichquartett Nr.2 mit dem Titel „Intime Briefe“ bzw. „Lettres intimes“. Im Mittelpunkt des Balletts steht ein einsamer Mann. Er verwickelt sich in kompliziert aufgebaute Pas de deux mit einer jungen Frau – ein Liebesverhältnis, das ihn aber doch immer wieder allein zurücklässt. Fünf weitere Tänzerinnen und sechs Tänzer in ähnlicher Kleidung wie die beiden Protagonisten spiegeln und reflektieren das Paar. Sie zeigen, dass auch andere, psychologisch einfachere und tänzerisch leichtfüssigere Verbindungen möglich wären. Vergeblich. Am Ende bricht der Mann zusammen.
Janáčeks Streichquartett „Intime Briefe“ ist stark autobiografisch gefärbt. Es spiegelt die heftige Liebesgeschichte zwischen dem Komponisten und der 38 Jahre jüngeren Kamila Stösslová. Beide waren verheiratet, wollten sich nicht scheiden lassen. Doch tauschten sie täglich Briefe aus: von Janáček sind rund 800 erhalten, von Stösslová 200 (letztere gelangten erst 1990 an die Öffentlichkeit). Die musikalische Uraufführung der „Intimen Briefe“ erfolgte 1928, kurz nach dem Tod des Komponisten. Vorher hatte er an seine Geliebte geschrieben: „Ach, es ist ein Werk, wie aus lebendigem Fleisch geschnitten.“ Es handelt sich um eine modern-expressive Musik, mit unbändigen Ausbrüchen und jähem Schluss. Spoerli verzichtet darauf, die vier Sätze des Streichquartetts besonders plastisch in Tanz umzusetzen. Er entwickelt in seiner Choreografie keine intensiven biografischen Motive, zeichnet weder Dreiecks- noch Vierecksbeziehungen nach (in früheren Jahren hatte Janáčeks seine Ehefrau ebenfalls mit Briefen überhäuft). Die im Tanz ausgedrückten Liebesbeziehungen in „Lettres intimes“ bleiben verhalten. Der Mann scheint stärker an Selbstzweifeln oder am Künstlerschicksal zu leiden als an der unmöglichen Liebe zu einer Frau.
In den beiden Hauptrollen tanzen zwei neu engagierten Solisten des Zürcher Balletts: der gebürtige Armenier Arsen Mehrabyan und die aus Kasachstan stammenden Aliya Tanikpayeva. Die beiden verstärken den „Ostflügel“ im Zürcher Ballett, zelebrieren mit großem Ernst Spoerlis typischen Stil: Neoklassik, persönlich gefärbt und im Zeitgeist erweitert.
Dass Spoerlis Ballett die Spielzeit des Zürcher Opernhauses eröffnet, hat inzwischen Tradition. Zu diesem Zeitpunkt ist jeweils noch nicht das ganze hauseigene Orchester aus den Ferien zurück. Für Janáčeks Streichquartett sind aber einige Musiker vorzeitig angetreten: Hanna Weinmeister (1.Violine), Anahit Kurtikyan (2.Violine), Valérie Szlavik (Viola) und Claudius Herrmann (Violoncello). Man genießt ihre intensive Live-Musik. Gleiches gilt für das Spiel des Pianisten Alexey Botvinov in Prokofjews „Sarcasms“. Philip Glass’ an sich so suggestive Originalmusik zu „In the Upper Room” dagegen erklingt aus einer Konserve von zweifelhafter Qualität: zu laut, zu schrill, zu abgehackt.
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