Ein Hauch von Ewigkeit
Meg Stuart erhält in Venedig den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk
Es kommt einem alles ein wenig bekannt vor: Drei Männer und zwei Frauen haben sich irgendwo am Ende der Welt hinter einer riesigen begehbaren Hecke verbarrikadiert und geben sich regressiven Obsessionen hin. Es wird geflirtet, geliebt, gehasst, gekratzt und gebellt – und immer wieder gehen neurasthenische Zuckungen und Fragmente von Gesellschaftstänzen und Gruppenspielen ineinander über. Zwischendrin redet man ein wenig kryptisch über enttäuschte Hoffnungen, Ängste und das Leben im Allgemeinen – und zwar in einer Art und Weise, dass die fragmentarische Konversation mühelos als Metapher für die Schwierigkeiten von Bühnenkunst im Allgemeinen gelesenen werden kann. Willkommen also in einem neuen Stück von Meg Stuart. „Do Animals Cry”, das laut Programmtext vorgibt, sich mit dem Themenkomplex Familie zu beschäftigen, bringt ein ähnliches Sammelsurium von sozial beschädigten Individuen auf die Bühne, wie wir es aus den zunehmend theatraler werdenden Werken zur Genüge kennen, die die Amerikanerin in den vergangenen zehn Jahren entwickelt hat. Zwar ist mit der barocken Anja Müller eine überbordend sinnliche Mutterfigur in das Stuartsche Universum eingedrungen, das ansonsten nach wie vor von unterernährten Neurotikern beiderlei Geschlechts bevölkert wird, doch wird auch diese physische Frischzellenkur mühelos von Stuarts immer selbstgenügsamer werdender Ästhetik absorbiert.
Wie bereits in „Visitors Only” oder „Replacement” ist eine zusammengewürfelte Gruppe vor allem mit endspielartigem Warten beschäftigt, in das sich hin und wieder übersprungsartige Versuche des Zusammenlebens schleichen. Und so ordnen sich Stuarts Protagonisten immer wieder zu Familienschnappschüssen an, drapieren sich um einen Esstisch oder zwängen sich alle gemeinsam in eine hellrosa gestrichene Hundehütte. Selbstverständlich laufen alle Versuche der Harmonie aus dem Ruder: Man zieht sich gegenseitig die Stühle weg, sabotiert in egoistischer Verzweiflung in die Umarmung eines Paars und macht sich auch ansonsten das Leben unfreiwillig schwer. Verpackt ist das Ganze in ein wunderbar suggestives installationsartiges Bühnenbild von Doris Dziersk und einen omnipräsenten Soundtrack zwischen minimalistischen Gitarrenloops, elektronischem Gezirpe und großem Orchesterklang, für den wieder einmal Stuarts Stammkomponist Hahn Rowe verantwortlich zeichnet. Neu an „Do Animals Cry” ist nur, dass ungefähr in der Mitte des ausgiebig ausgewalzten zweistündigen Abends tatsächlich eine Art Erlösergestalt erscheint: Ein junger dürrer Mann mit langem Haar (Alexander Jenkins) klettert unversehens von der Hecke herab und umarmt alle bereits versammelten Individuen wie ein verlorener Sohn. Anstatt jedoch für Erweckungserlebnisse oder gar Utopien zu sorgen, wird der Neuankömmling unverzüglich in die altbekannten Rituale integriert. Während sich auf der Tonspur der Canned-Heat-Evergreen „I’m going home” mit einem frenetischen Hardrock-Beat paart und so die verblühten Ideale der Woodstock-Generation nachhallen lässt, zuckt Jenkins gemeinsam mit seiner neuen Familie ekstatisch durch den Raum.
Hätte Stuart ihr Stück an dieser Stelle beendet, wäre ihr möglicherweise ein lakonischer Kommentar auf die mystischen Bedürfnisse unserer durchrationalisierten aber gleichzeitig nach einer diffusen Spiritualität hungernden Gesellschaft gelungen. Doch offenbar gehörte dies keineswegs zu ihren Zielen. Anstatt das immer installativer werdende Geschehen aus repetitiven Paar und Gruppenkonflikten dramaturgisch zu bündeln, lässt sie die erfolgserprobte Tanztheatermaschine einfach weiterlaufen. Jeder Interpret bekommt sein Solo, jeder darf noch einmal quer durch das ganze Bühnenbild hüpfen, bis sich irgendwann auch die letzte workshopartige Idee erschöpft hat. Hatten Stuarts frühere Arbeiten in der Verweigerung einer linearen Dramaturgie eine hypnotische, ja fast halluzinogene Wirkung erzielt, stellt sich bei „Do Animals Cry” besonders im letzten Drittel bestenfalls wohlwollende Müdigkeit ein. Allzu bekannt sind die ekstatischen Tänze, die Körperteile isoliert voneinander durch den Raum jagen, die obszönen Gesten und die hilflosen Versuche der Selbstinszenierung. Während Stücke wie „Visitors Only” oder „Blessed” bei aller Repetitivität auch immer etwas zutiefst Verstörendes transportierten und dazu aufforderten, die eigenen Anschauungen über Welt und Individuum noch einmal empfindlich zu hinterfragen, lässt sich Stuarts neueste Produktion wie eine harmlose Delikatesse konsumieren. Somit ist „Do Animals Cry” ein erschütterndes Dokument dafür, was geschieht, wenn eine Künstlerin allzu sehr den eigenen Patentrezepten vertraut.
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