Tanz mit Kind
Fotoblog von Dieter Hartwig
Behutsam breitet sich das Summen in der meterhohen Halle aus, umhüllt die auf Picknickdecken liegenden und sitzenden Körper. Die Augen geschlossen, formen sich die stummen Klänge im Kopf zum „...only fools rush in but I can’t help falling in love with you...“. Die Muskeln entspannen, die Gedanken wiegen sich in den Klängen, die aus den Mündern der 21 TänzerInnen strömen.
Es ist einer der Momente, der inne halten lässt vom Tanzen und Sich-Bewegen der letzten drei Stunden, von dem, was mit dem eigenen Körper geschehen ist – und vorbereitet auf Boris Charmatz' Aufführung von „10000 Gesten“, die bald danach zu Mozarts Requiem 55 Minuten lang über die Bühne wirbeln werden.
„Common Sleep“ nennt sich dieser hinreißend wohlige Programmpunkt. Ein fast utopisches Moment, das sich auch im architektonischen Konzept des Raums sowie der Choreografie der 10000 Gesten wiederfindet. Und dieses Moment, dem nicht das Scheitern, sondern Vorstellungskraft und Veränderungswille, das Ausloten von Möglichkeiten im Unmöglichen eingeschrieben ist, eröffnet in spielerischem Leichtsinn erst die Erfahrung – sei es auf körperlicher oder mentaler Ebene.
Charmatz‘ Aktion „A dancer’s day“ kreiert über sechs Stunden lang Erfahrungsräume um die Kraft des Tanzes und das in einer Intensität, die in der Erinnerung noch Tage später spürbar wird. Wer erst zum Zeitpunkt der eigentlichen Aufführung von „10000 Gesten“ dazu stößt, hat sich so wohl um jenes Vorspiel beraubt, das sich mit Warm-up, choreografischer Praxis und gemeinsamem Essen und Ruhen überhaupt an diese Aufführung herantastet.
Doch es ist mehr als der Produktionsprozess eines Stückes, der da im antiken Halbrund verhandelt wird. Der von Francis Kéré geschaffene Theaterraum, inspiriert von der Idee einer Agora und Piscators Totaltheater, fügt sich ein in die weitläufige Hallenarchitektur des ehemaligen Flughafen-Hangars. Die ganze Halle wird in dieser offenen Architektur zu einer einzigen Bühne – das geschieht nebenbei und in einer Leichtigkeit, wodurch man gerne die Rollen annimmt, die einem beim Betreten angeboten werden – sei es als ZuschauerIn, TänzerIn, als flanierende/r BesucherIn oder Choreografierende/r.
In diesem Raum und durch diese Konzeption wird das Theater einmal mehr seiner ursprünglichen etymologischen Bedeutung gerecht als ein Ort für Fest und demokratischen Diskurs, der sich nicht in Worten erschöpft, sondern in der Begegnung und Organisation der Körper entfaltet und so die Machtverhältnisse des Theaters reflektiert, indem die ZuschauerInnen sich in andere Haltungen bringen lassen können – sei es im Stroboskoplicht des Dancefloors beim Electropunk-Projekt von T.Raumschmiere, während des gemeinsamen Picknicks, das begleitet wird von Tino Sehgals Arbeit „ohne Titel“, oder eben im aus OSB-Platten gezimmerten, einem griechischen Theater nachempfundenem Zuschauerraum.
Während sich das Publikum in jenen Sitzreihen sammelt, winken es die TänzerInnen bereits neben das Bühnenfeld. Und schon bin ich Teil einer Gruppe mit anderen ZuschauerInnen: klopfe über Rücken, Arme und Beine, wärme diesen anderen, fremden Körper auf. Man begegnet sich, mit einem Lächeln, ohne den Namen des Gegenübers zu erfahren. Andere Gruppen laufen locker vorbei, probieren einfache Kontaktimprovisations- und Partnering-Übungen. Angeleitet wird dies von den TänzerInnen aus Charmatz' Ensemble. Und so beschäftigt sich dieser unmittelbare Austausch neben dem Verständnis für den sich bewegenden Körper auch mit wesentlichen Prinzipien der Kunstform Tanz, die sich aus Migration und dem Transfer des Wissens von Körper zu Körper speisen.
Mit Kommunikation und Vermittlung geht es denn auch weiter, ist doch die Geste als choreografisches Prinzip bestimmendes Thema der Aufführung sowie des Workshops mit Boris Charmatz, in dem sich das Publikum im Finden von Bewegung, dem Kreieren einer Choreografie ausprobieren und besonders dem was eine Geste überhaupt ist und sein kann, nachgehen darf.
Je öfter ich versuche, die Bewegungsabläufe, die so spontan und im Moment des körperlichen Sich-Regens entstehen, zu wiederholen, desto unmöglicher erscheint das Unterfangen: Zu Beginn mache ich diese Geste, ja und dann folgen drei gehend und fünf liegend und eine große und... wie war das nochmal? Blickt man um sich, fällt schnell auf, dass bei dem Versuch, die Abläufe zu erinnern und exakt zu wiederholen, immer andere Menschen meine Wege kreuzen und wohl niemand die entstehende Choreografie so ausführt, wie er oder sie diese zu Beginn entwickelte. Man modifiziert, verfeinert, verliert den Faden. Manchmal wirkt es sogar so, als ob sich die Gesten angleichen würden, man sein Gegenüber nachahmt, um die eigene Erinnerungslücke zu schließen. Mit diesen Verschiebungen und Unsicherheiten spielt Charmatz, der geduldig und doch in bestimmendem Tempo die Regeln vorgibt, die Bewegungen der dutzenden Freiwilligen freudig in Gang hält. Während des Bewegens beginnt sich der Kopf einzumischen, nachzuhaken, Begriffe in Frage zu stellen: Eine Geste? Wo beginnt und endet sie? Was bedeutet das Nichts? Körper reagieren, folgen unmerklichen Impulsen des Innen und Außen. Die Grenzen verschwimmen, die Bewegung verflüchtigen sich so schnell wie sie aufgetaucht sind – als Idee oder Aktion. Mein Kopf versucht aufzuzeichnen, was nicht festzuhalten ist.
Vergänglichkeit ist das Thema der fulminanten Aufführung der „10000 Gesten“: Keine Bewegung der 55-minütigen Choreografie „10 000 Gesten“ soll wiederholt werden. Immer wieder zählend fächern die TänzerInnen ihr Repertoire an Gesten auf. Locker laufen sie über den spiegelnden Tanzteppich, verknäulen sich in und mit ihren Gesten, Strukturen der Choreografie in der Rückerinnerung an den Workshop werden sichtbar. Alltägliches vermischt sich mit dem Ausdruck extremer Emotionen. Sie schütteln ihre Köpfe, stampfen mit den Füßen, verweisen auf Gewalt, Liebe und Erotik – und greifen nach dem Publikum. Ein unverhoffter Kuss für eine Zuschauerin, man schmiegt sich in den Schoß des Publikums, zerrt einen anderen zu Boden. Untermalt mit Mozarts Requiem reiht sich in dieser schwindelerregend schnellen Choreografie Situation um Situation aneinander und enthüllt das Existenzielle ihrer Taten, das kurz aufscheint und alsbald wieder verschwindet.
Das Flüchtige des Tanzes lotet auch Tino Sehgal in seinem 17 Jahre alten „ohne Titel“ aus. Die von ihm aus der Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts übernommenen Gesten scheinen eine Form der Reproduktion widerzuspiegeln, als signature move die Essenz des Immateriellen des Tanzes zu bilden – und immer wieder die Frage aufzuwerfen, was die bewegten Überreste jener Tanzgeschichten sein können. Die abgewinkelten Handflächen des Faun, die sich an der Wand entlanghangelnden Beine eines Xavier Le Roy oder die lockeren Sprünge der AusdruckstänzerInnen.
Der Abend endet im gelblich-schwachen Licht der von außen angestrahlten Hallenfenster. Mit dem Duett „Étrangler le temps“, in dem Boris Charmatz und seine Tanzpartnerin Emmanuelle Huynh aus der Erinnerung eine Choreografie der Tänzerin Odile Duboc zu der um die Hälfte verlangsamten Musik von Ravels Boléro interpretieren, dehnen die beiden die letzte halbe Stunde ins Unendliche aus. Auf einem Podest, ganz in sich zurückgezogen, werden ihre Körper zu skulpturalen Gebilden und laden zum Umschreiten und Perspektivenwechsel ein. Fast leblos wirkt der Körper der 54-jährigen Tänzerin, wenn Charmatz diesen in die Waagrechte hebt, zwischen Zärtlichkeit und Brutalität schwanken ihre tastenden Bewegungen. Noch einmal verdichtet sich einer der vielen Momente dieses langen dramaturgisch durchweg stimmigen Tages zu einem gelungenen Abschluss.
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