Kinetisches Lebensgefühl

„Strawinskys ‚Motor Drive‘“ untersucht Musik als Spiegel von Zeit-Erfahrungen

Berlin, 21/12/2009

„Con-tempo music is the most interesting music that has ever been written, and the present moment is the most exciting in music history.” (Igor Strawinsky)

In der Reihe „Aesthetica Theatralia“ erschien als Band 7 eine hochinteressante Untersuchung, die erste Ergebnisse eines vom Rektorat der Ruhr-Universität Bochum seit 2005 geförderten interdisziplinären Forschungsprojektes zu Igor Strawinskys musikalischem Paradigmenwechsel zur Diskussion stellt. In vorliegender Studie werden erstmals neurowissenschaftliche mit tanz-, theater- und musikwissenschaftlichen Forschungen verbunden. Die Herausgeberinnen Monika Woitas und Annette Hartmann betonen in ihrem Vorwort: „Zum einen sollte die ‚innere Motorik‘ dieser Musik näher definiert werden, zum anderen galt es, die ‚äußere Motorik‘ einer zunehmend kinetisch geprägten Lebenswelt als (notwendigen?) Kontext dieser Neuorientierung zu erkennen und Spuren in den Kompositionen nachzuweisen“. Genau dieses konsequente Zusammen-Denken von Kunstproduktion/Rezeption und Welt-Erfahrung macht diese fundierte Publikation zu einer zeitrelevanten Lektüre. Die Autoren entwickeln ein ebenso anschauliches wie spannendes Bild von der musikalischen Motorik als Spiegel einer radikal veränderten kinetischen Lebenswelt nach 1900 mit ihren rasanten Beschleunigungsprozessen in industrieller Produktion und Konsumtion.

„Die neuronalen Aktivitäten beim Anhören von Musik oder beim Betrachten einer Bewegung geben Hinweise auf Wahrnehmungsmuster, die möglicherweise nicht allein für die Rezeption von Musik und Tanz, sondern auch für deren Produktion interessant sein können“, vermuten die Herausgeberinnen. Die einführenden Statements (in englisch) im Teilkapitel „Innere Motorik“ - „Perception of Music & Rhythm – A neuroscientific Perspective on the Music of Igor Stravinsky (Michael H. Thaut), „Mirrors in the Brain as Connections to the World“ (Beatriz Calvo-Merino), die im Biomechanik-Labor erforschten „Cognitive Structures in Dance“ (Bettina Bläsing) sowie „Rhythm, Music and Motion in Body and Mind” (Jessica Phillips-Silver) - betrachten das Verhältnis von Musik und Bewegung als eine dem menschlichen Gehirn innewohnende Konstante mit erstaunlichen Resultaten.

Monika Woitas hinterfragt aus neurowissenschaftlicher Perspektive den mitreißenden „powerful motor drive“ (George Balanchine) in Strawinskys Partituren als ganzheitliche Körper-Musik, die mit der allgegenwärtigen Aufbruchstimmung am Beginn des 20. Jahrhunderts korrespondiert. Die Aufwertung des Rhythmus in der Allianz von Klang und Körper, Musik und Bewegung provoziert jene innere Motorik im kompositorischen wie choreografischen Geschehen, die (jenseits verbalisierbarer Inhalte und Emotionen) den Prozess der Zeiterfahrung mehrfach spiegelt.

Angesteckt vom rhetorischen drive der Autoren verfällt der Leser dem kenntnisreichen und präzis argumentierenden Sog der Betrachtungen zur äußeren Motorik. Mit großer Anschaulichkeit argumentieren alle Verfasser zu Recht ausgehend von der „Hypothese, dass die zunehmend kinetisch geprägte Lebenswelt nach 1900 eine Veränderung nicht nur der Wahrnehmungsmodi, sondern auch der kompositorischen Prinzipien bewirkt hat“.

Joachim Fiebach untersucht die Paradigmenwechsel in der Kunst als „Tendenz zur ‚Ästhetisierung‘ von Lebensweisen, der Oberfläche der Dinge in diesem Umwälzungsprozess“. Der konsumgetriebene Kapitalismus führt zu einer „Wende von der vielbeschworenen puritanischen ‚Produktionsethik‘ zu einer ‚Genussethik‘ als bestimmender hegemonialer Wertsetzungsmaschine“. Die Betrachtungen zu Mode, Jugendkult, Varieté, Warenhauspräsentationen, Futurismus künden von einer extremen Aufwertung des Bildlichen wie des Sinnlichen, die zugleich mit der Entkörperlichung des Darstellers einhergeht. Diese eröffnet ebenso wie der italienische Futurismus den Weg in die Abstraktion. „Die Logik ihrer Konzepte“, so Fiebach, „führte zur Verabschiedung der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Menschen als sozialem Wesen und seiner von ihm geschaffenen und durch sie bestimmten systemischen und gesellschaftlichen Kontexte.“ Igor Strawinskys „Bilder aus dem heidnischen Russland“ werden in ihrem gewalttätigen Vitalismus „zum Fanal des anbrechenden Jahrhunderts“.

Christa Brüsle gibt einen kursorischen Überblick der unterschiedlichen temporalen Kompositionsstrukturen in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der prägenden Zeiterfahrung des ersten Weltkrieges. Sie widmet sich den neuen Auffassungen von Rhythmus und rhythmischem Gestalten in der „Unterhaltungsmusik als Konzertmusik“ (Satie, Schönberg, Strawinsky, Antheil). Im Zeitalter der Dynamisierung und Maschinenbegeisterung wurde der Rausch der Geschwindigkeit in der futuristischen Geräuschmusik und den vom Jazz beeinflussten Modetänzen (Ragtime, Shimmy, Foxtrott, Charleston) gespiegelt. Wobei der Aspekt der Körperlichkeit in der Musik und ihrer rhythmischen Explosion, parallel zu sportlichen Aktivitäten in den 20er Jahren, zu einem Grundimpuls der neuen Freiheit avanciert.

Annette Hartmann fokussiert den Rhythmus als neuen kulturellen Topos des 20. Jahrhunderts überaus schillernd und vielschichtig. In seiner ambivalenten kritischen Reflexion durch Zeitgenossen (Perry Bradford, Heinz Pollock, Siegfried Kraucauer) spiegelt Rhythmus als mechanisches Prinzip „entweder die Glorifizierung der Maschine wider, die dem Menschen ein ‚modernes‘ Leben ermögliche, oder aber die zivilisatorische Kritik an ihr, weil sie es doch ist, die dem Menschen einen Rhythmus oktroyiere, der nicht sein eigener zu sein scheint“.

Furios eröffnet Barbara Zuber ihre Untersuchung zur Positionierung von Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ durch die Maschinenprosa im Essay des amerikanischen Kunstkritikers Paul Rosenfeld von 1920, der in Kenntnis des vierhändigen Klavierauszuges zwei Jahre vor der amerikanischen Erstaufführung Strawinskys „Bilder aus dem heidnischen Russland“ nicht als Ritual, sondern als gigantische Rhythmusmaschine wahrgenommen hatte, während die Mehrheit der Kritiker „den ‚Sacre‘ nicht als Chiffre für den maschinisierten Zustand der Welt“ auffassten. „Es ist die Musik des technischen Zeitalters, des unaufhörlichen Hintergrundrauschens der großstädtischen Moderne, die Rosenfeld in Strawinkys Musik zu entdecken glaubt“, so Barbara Zuber , die die Metapher der Rhythmusmaschine als Synthese von Mensch und Maschine in „The Machine-Man – Strawinsky und die Phantasmen der Moderne“ mit anregenden Präferenzen auf die Manifeste der italienischen Futuristen (Strawinsky selbst hörte die intonarumori/Geräuschtöner 1914 und 1915 in London bzw. in Mailand) und die Positionen Theodor W. Adornos diskutiert.

Monika Woitas untersucht, wie die neuen Klänge der Großstadt musikalisch multiperspektivisch wahrgenommen werden, wie in der „Neuen Musik“ ein unmittelbares Erleben der Gegenwart spürbar wird. Von „Petruschka“, „Le Sacre du Printemps“, „Parade“ bis „Les Noces“ reicht die Phase der musikalischen Transformation des kinetischen Lebensgefühls, die danach durch präzise Konstruktion und strenge Konzentration auf das Wesentliche in der Zusammenarbeit mit George Balanchine zum abstrakten Spiel von Klang, Raum und Bewegung in „Apollon musagète“ und „Agon“ führen, in denen „Musik und Tanz zu gleichwertigen Teilen der Komposition werden“, folgert Monika Woitas.

Jörg Rothkamm befragt „Apollon musagète und das Erbe Tschaikowskys“ und Stephanie Jordan rückt „Stravinsky as Co-Choreographer“ in ihrer Studie zu „Agon“ ins Zentrum. Mit einem abschließenden Blick auf „Histoire du Soldat“ und „Les Noces“ resümiert Monika Woitas: „Anders als Charlie Chaplin zeigt sich Strawinsky so nicht als Opfer der ‚Modern Times‘, sondern als deren Konstrukteur, als souveräner Spieler, der immer neue Regeln und Spielvarianten erfindet und damit Zeit selbst erschafft“.

Wer sich für den mitreißenden Bewegungsantrieb in Strawinskys innovativen Kompositionen als Spiegel von Zeit-Erfahrungen ebenso interessiert wie für die Spannungsverhältnisse von musikalischer und choreografischer Komposition (u.a. von Waslaw Nijinsky, Michail Fokin, George Balanchine, Maurice Béjart, Xavier Le Roy bis Stephan Thoss), kommt an der Lektüre dieser Untersuchung nicht vorbei.

Monika Woitas / Annette Hartmann (Hg.): Strawinskys „Motor Drive“. epodium, München 2009, 278 Seiten, 29 Euro. ISBN 978-3-940388-10-0 
www.epodium.de

 

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