Lichtblicke der Liebe

William Forsythe verstört bei der spielzeit’europa mit „Decreation“

Berlin, 21/01/2009

Schon die Bühne im Haus der Berliner Festspiele sieht wie ein technisches Gestrüpp aus. Weit hinten ein weiß gedeckter Tisch, zu beiden Seiten Stühle, Kameras, Mikrofone, ein Verstärker, der später zur Videoleinwand mutiert. Eine Frau beginnt mit quietschiger Stimme von Vertrauen, Verteidigung zu reden, ein Mann, der ebenso an seinem T-Shirt herumzerrt und sich in alle Richtungen verrenkt, übersetzt das echohaft ins Deutsche. Klavier live, immer wieder auch dröhnendes Geräusch begleiten den Hexenkessel, der sich bald entwickelt. Denn die 14 über die gesamte Szene verteilten Tänzer sprechen mit albern verzerrter Stimme, lispeln wie Kinder, treten in Ferndialoge, weshalb kaum erkennbar wird, wer mit wem. Dabei winden, knoten, verkrüppeln sie ihre Leiber, als wären sie alle fremdgesteuert. Doch William Forsythe wäre nicht der wichtige Choreograf und sublime Seismograf zwischenmenschlicher Missstände, als der er seit über 30 Jahren weltweit Preise sammelt, hätte er hinter dem scheinbaren Chaos nicht ein Anliegen. Seine gut einstündige „Decreation“, 2003 in Frankfurt uraufgeführt, ein Jahr vor der erzwungenen Auflösung der Kompanie, nutzt ein Opernlibretto der kanadischen Lyrikerin Anne Carson. Das umkreist drei Frauenfiguren: die altgriechische Dichterin und Pädagogin Sappho, die 1310 in Paris auf den Scheiterhaufen gebrachte französische Mystikerin Marguerite Porète, die 1943 in England an Magersucht gestorbene französische Philosophin Simone Weil. Liebe war aller drei Thema, um Liebe geht es auch bei Forsythe.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Nicht die Liebe etwa zu Gott ist hier das Zentrum, sondern unser alltäglicher Krampf unterm Deckmantel der Liebe. Gefesselt in sich selbst, piepsen die Darsteller ihre Fragen und Antworten ins Mikroport, geraten, sobald ein Gespräch entsteht, in Streit, plappern einfach drauflos, positionieren sich selbstgefällig vor der Videokamera. Es kommt schlimmer: Den Tänzern versagen gänzlich Sprache und Semantik, weil sie nicht mehr artikulieren können, was sie empfinden, was in ihnen wühlt, mit wilden Lauteskapaden aus ihnen hervorbricht, die Gliedmaßen krümmt, schlenkert, um sich selbst verdreht. Den Höhepunkt der Verwirrung löst Forsythe in ein grandios fließendes Männerduett auf: Klammern, Befreien, Verschlingen, Abrutschen, Entziehen, aneinander Abgleiten – in engstem Körperkontakt und so Ausdruck der Suche nach Liebe, auch wenn ein Beobachter „I hate that“ kommentiert, einer der Akteure genießerisch kontert: „It’s a Spiel“.

Aus dem geschickten Gegeneinander von stillen, intimen Szenen und entfesselten Ensembles speist sich ein emotionaler Abend, der uns zeigt, wie wir sind. Was als friedlicher Diskurs über Liebe beginnt, führt fast unweigerlich zu Verwicklungen, Missverständnissen, Palaver, das einmal in Chorusgesang mit opernhaften respektive angejazzten Einlagen „I love you“ gipfelt. Das ist nicht nur ein Forsythe würdiger witziger Einfall, sondern offenbart auch die Talente einer großartigen Tänzermannschaft. Dieses Liebes-Welten-Tralala wäre kein übler Schluss. Doch Forsythe setzt noch eins drauf. Erst lässt er Beziehungslatein aussprechen: Du gibst mir alles, ich dir nichts. Dann sitzen alle um den großen Tisch, hieven die personifizierte weibliche Seele wie zu einem Beschwörungsritual auf die Platte, setzen sie wie einst Porète Feuer aus. Am Ende der poetischen Metapher bleiben die gerußte Seele, eine von ihr umfangene Frau und der Textsprecher allein zurück. Der Trost ist schwach in diesem verstörenden Stück, er ist aber immerhin noch da.

Nochmals heute, 20 Uhr, Haus der Berliner Festspiele, Schaperstr. 24, Charlottenburg, Kartentelefon 254 89 100, Infos unter www.berlinerfestspiele.de

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