Noch bevor die Merce Cunningham Dance Company (MCDC) die kommenden zwei Jahre mit dem tänzerischen Nachlass auf Welttournee geht, konnte die Stadt Genf sie zu ihrer umfassenden Cunningham-Präsentation einladen. Vom 26. bis 28. November waren im Bâtiment des Forces Motrices „CRWDSPCR”, „Second Hand“ und „Squaregame“ zu sehen.
In „CRWDSPCR“ (1993) stehen zwölf Tänzer mit Bruchstücken aus Mondrians Gitterwerk auf dem Leib vor einem tiefen Blau. Wie sie die Quadratausschnitte zueinander fügen, ergibt jeweils das Bild. Ob disparat oder engverflochten, eines wird klar: der Meister der Komposition von Form, Raum und Dynamik ist hier am Werk. Doch erst einmal zischt und knistert es aus allen Ecken. Noch scheint der Saal statisch geladen zu sein und beim ersten Kontakt funkt’s und rauscht‘s (Musik: John King, „blues’ 99“, live erzeugt von Takehisa Kosugi, dem Nachfolger John Cages als Musikdirektor der Company, und von Stephan Moore). Behutsam biegen sich darum die Tänzer in ihre symmetriefähigen Posen. Ihr tiefer Ausfallschritt weit weg vom gestreckt behaltenen Standbein ist nun mal nichts anderes als die Attituden des Nebenmanns im Stand. Nur eine Frage der Spiegelachse, vielleicht auch des 1993 erstmals angewandten Softwareprogramms Life-Form. Mag diese Etüde zum rechten Winkel auch mit diagonalen Armen, den Winkelhalbierenden, durchsetzt sein, wir fühlen in diesem Adagio Mondrians Netz vor unseren Augen entstehen. Da fegt plötzlich eine kleine Person mit quirligen Drehungen über das Feld. Diesem Wirbelwind an Chaînées entreißt die Fliehkraft immer wieder in hohem Bogen ein gestrecktes Bein. Links marschiert tief in die Knie gesackt eine Truppe dicht an dicht auf uns zu. Vor der Rampe und dem Graben wendet sich ihr Schicksal, und die spitzen Knie im Tiefgang reißen die Truppe rechtzeitig um die Ecke. Knie als Wegweiser, Impulsgeber, Fokus? Diese Idee kommt nicht von Life-Forms. Humor ist so wenig die Gabe des Computers wie das Spiel mit der Dynamik. Es war Merce Cunningham, der die Komponenten wählte, so kontrastiv wie nur möglich. Mag er die Reihenfolge oder Zusammensetzung dem Würfel oder Programm überlassen, sein Hang zum Zufall zeigt: ihm liegt an der Abwechslung. Und das kommt uns zugute.
Das Publikum der ausverkauften Vorstellungen verfolgte gebannt die unentwegt wechselnden Form(ation)en. Ob paarweise, unbequem dicht und synchron, im Trio, Quartett oder Quintett - vervielfältigte Posen schärfen den Blick für die Form der Teile, und diese den Blick für die Geometrie des Ganzen. Genau da darf aus dem Gefüge einer seinen Kopf vogelhaft herumreißen und keck in den Zuschauerraum picken… „Second Hand“ entstand 1970, als John Cage Erik Saties „Socrate“ bearbeiten wollte. Da er die Rechte dazu nicht erhielt, nutzte er nur die Struktur und Phrasierung des Originals und füllte sie mit zufallsgenerierten Noten. Die so ausgewürfelte Tonfolge des Klavierstücks tröpfelt über lange (Durst-)strecken ohne einen Akkord vor sich hin. Einzig Cunningham setzt da bunte Farbtupfen und willkommene Dynamik entgegen. Nach seinen Worten ist dieses Werk das letzte, das auf eine Partitur horcht. Meinte er vielleicht seine ironischen Akzente, kleine brüske Wiederholungen des Tänzers, wenn die Musik nicht von der Stelle zu kommen scheint? Oder wenn zuletzt die endlich volleren Klänge im Nachhall ihrer langen Pausen den Raum eröffnen für Cunninghams Feuerwerk an Phrasen, welches die gesamte Gruppe vom linken Bühnenrand zum rechten peitscht, bevor der nächste heiß ersehnte Akkord den Richtungswechsel gibt, da capo …? Zwar sieht man Cunninghams abstrakte Vorliebe sich abzeichnen, wenn Rundungen und Wölbungen enge und weite Winkel förmlich in Klammer setzen. Die zahlreichen balletthaften Phrasen dagegen wirken verstaubt. Ungeschickt, dem Publikum eine anachronistische Werkfolge zu präsentieren.
Das nur sechs Jahre hierauf entstandene Stück „Squaregame“ dagegen wirkt noch ganz frisch. Inmitten eines weiten dunklen Umraums befindet sich ein weißes Quadratfeld, das die Tänzer beisammen hält. Die Ecken sind mit prallen Plastikballen abgesteckt, hinter denen sie hervorlugen, bis sie ihre gewitzte Partie spielen. Auf den Ballen hüpfen sie auch mal los, wenn sie am Zug sind. Ein Spiel, das alle Regeln gegeneinander ausspielt, das Überspringen, Verschanzen, Verketten bis schließlich das lustige MCDC-Pack sich türmt, beim letzten Musikakzent den geworfenen Ballen noch hoch überm Kopf und – der Vorhang fällt.
Man wünscht der Company und dem preisgekrönten Choreografieassistenten Robert Swinston zur perfekten Belebung des Merce-Cunningham-Erbes noch eines hinzu: auf dass uns der innovative Geist des Choreografen erhalten bleibe!
www.merce.org
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