Was wir ahnten, glaubten oder wünschten, wir haben es jetzt erfahren, gesehen und gespürt, samt jenen Schauern, die über die Haut gehen, die Härchen aufstehen lassen, wenn uns das Außergewöhnliche freundlich berührt. Im Paradies wurde getanzt und im Himmel wird getanzt. Einer, der aus dem Vorrat paradiesischer Erinnerungen schöpfte und im Hinblick auf alles was nach der kurzen Spanne zwischen Herkunft und Ankunft auf uns wartet, der dem Zufall als entscheidender Kraft zwischen den Energiepolen an den Lebensschwellen vertraute, war der amerikanische Tänzer und Choreograf Merce Cunningham. Er ist im letzten Jahr im Alter von 90 Jahren gestorben.
„Fast Neunzig“ war er, als er seine letzte Choreografie schuf. „Nearly Ninety“ wurde am 16. April 2009, seinem 90. Geburtstag, uraufgeführt. Ein so bewegtes wie bewegendes Vermächtnis für sieben Tänzerinnen und sechs Tänzer, jetzt in der Tourneefassung erstmals in Deutschland zu sehen. Diese Feier der Behutsamkeit geschieht auf schwarzer Bühne, deren Horizont sich hebt, zunächst einen Leuchtstreifen, dann eine große Lichtfläche frei gibt, die sich zum Ende wieder fast verdunkelt, jedoch in kaum erkennbarem Lichteffekt sich zu einem Tunnel verengt, dessen Ziel verborgen bleibt.
Der Tanz erzählt keine Geschichten im üblichen Sinne, die 13 Tänzerinnen und Tänzer beglücken uns mit ihren spielerischen Formen, die daran erinnern, wie Kinder entdecken, dass ihnen eine Vielfalt an Formen der Fortbewegung gegeben ist, wenn sie nur die Begrenzungen normierter Zweckmäßigkeit hinter sich lassen. Die Freude an der Wiederholung mit leichten Veränderungen und die Wahrnehmung des Zufalls in der Begegnung oder in der Empfindung des Raumes schaffen ein weites Spektrum der Verwandlungen von Erfahrungen in den Tanz. Dessen klassische Grundierungen bleiben erkennbar, auch wenn Symmetrien und Synchrones vermieden werden, es sei denn sie verdanken sich dem wiederholbar gemachten Zufall. Die Liebe zur Eleganz weiter Linienführungen ist unübersehbar und erfährt durch die Mitglieder der Kompanie schönste Gestaltung. Manchmal meint man Fragmente eines Pas de deux oder Pas de trois zu erkennen, nur sind die Zuordnungen aufgehoben, hier ist nicht männlich und nicht weiblich, es gilt die Vision der umspannenden Behutsamkeit im zärtlichen Umgang mit dem eigenen Körper, dem Zufall der Begegnung und der Unvorhersehbarkeit wechselnder Raumempfindungen.
So entstehen geheime Korrespondenzen zwischen den Tänzerinnen und Tänzern, deren Maß an Zartheit gegen die Härte der Klänge schwingt, welche mitunter durch den elektronischen Sound, den John King und Tkehisa Kosugi live verbreiten, an donnernden Hubschrauberlärm erinnern oder wie Peitschenhiebe in den Raum schlagen. Der Tanz in seinen Bewegungen, in seinen Linien und in seiner Rhythmik assoziiert eher Gesang, instrumental wie das weiche Spiel einer Oboe, dann wieder mit der Leidenschaft des dunklen Celloklanges oder wie jene Töne menschlicher Stimmen in den Liturgien des frühen Mittelalters. Dieser Tanz, selbstbewusst aber ohne jeden Anklang von überrumpelnder Militanz aus Bravour oder artistischer Verblüffung, gibt letztlich eine Ahnung vom Unendlichen in der Endlichkeit, allein auch deshalb, weil sich nach knapp 90 Minuten der Vorhang senkt.
Was Cunninghams 13 Tänzerinnen und Tänzer aber in diesem Zeitfenster geleistet haben, wie sie mit den enormen technischen Ansprüchen souverän umgegangen sind – man denke nur an die vielen weit ausgereizten Varianten des Tanzes auf der halben Spitze – das entlässt uns in einen wunderbaren Zustand der Gelassenheit gegenüber aller Endlichkeit und befreitem Augenmaß für die gültige Schönheit des Zufalls.
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