John Neumeier, Vaslaw Nijinksy und das Ballett „Nijinsky“

Der Hamburger Ballettchef widmet Vaslaw Nijinsky und den Ballets Russes eine Ballettwerkstatt

Hamburg, 30/03/2009

Die magische Anziehungskraft, die der Tänzer und Choreograf Vaslaw Nijinsky auf den Tänzer und Choreografen John Neumeier ausübt, geht mehr als 50 Jahre zurück. Aufgewachsen in Milwaukee in der amerikanischen Provinz, ohne Ballettschule, ohne eine Kompanie am Ort, empfand bereits der kleine John eine unerklärliche Affinität zum Tanz, noch ohne zu wissen, was er darunter eigentlich verstehen sollte. In der Bibliothek der Stadt gab es ganze fünf Bücher zum Tanz – eines davon trug den Titel „The tragedy of Nijinsky“. Es wurde zum Schlüsselwerk für eine tief empfundene Verbundenheit und Liebe zwischen einem der bedeutendsten Choreografen unserer Zeit und dem bis heute ebenso charismatischen wie tragischen Künstler Nijinsky. Eine Liebe, aus der nicht nur eine umfangreiche kostbare Sammlung aller Devotionalien rund um den ehemaligen Star der „Ballets Russes“ hervorgegangen ist, sondern auch eines der schönsten und vielschichtigsten Stücke der Ballettliteratur – was in der Hamburger Ballettwerkstatt am 29.3.2009 auf bewegende Art zu bestaunen war, die John Neumeier Vaslaw Nijinsky und den Ballets Russes widmete.

Es ist ein Charakteristikum dieser Werkstätten, dass sie Neumeiers Werk in einer anderen, unmittelbar fassbaren Intensität sichtbar machen als in den regulären Vorstellungen mit Bühnenbild und Kostümen. Dabei spielt nicht nur die unprätentiöse Trainingskleidung der Tänzer eine Rolle, vielleicht ist es auch die Schlichtheit der leeren Bühne, die alle Aufmerksamkeit der Schauenden auf die Tänzer und ihre Bewegungen konzentriert, die sich in einer bewundernswerten Weise in ihre Rollen werfen, als tanzten sie zum letzten Mal in ihrem Leben. Allen voran Alexandre Riabko in der Titelrolle – er zeigt alle Hingabe, aber auch alle Verzweiflung, alle Einsamkeit dieses Tänzer-Choreografen auf eine so ergreifende Art, gepaart mit einer phantastischen tänzerischen Brillanz und Eleganz, dass man ganz stumm wird beim Schauen. Aber auch alle anderen wichtigen Rollen sind mit den Hamburger Solisten glänzend besetzt: Ivan Urban ist ein höchst attraktiver Serge Diaghilew, mit genau jenem gerüttelt Maß an Autorität und Dominanz, das dazu angetan ist, ihn gleichermaßen zu fürchten und von ihm angezogen zu sein. Joelle Boulogne verleiht Romola Nijinska die nötige Noblesse, aber auch die Kraft und den unbedingten Willen, die diese wohlhabende Frau beseelt haben müssen, als sie alles dransetzte, um den Tänzer Nijinksy, der zuvor die Muse Diaghilews war, zu bekommen – und sie bekam ihn auch, während der Überfahrt auf dem Schiff nach Südamerika.

Neumeier stellt allerdings in Frage, ob es wirklich Liebe war zwischen Romola und Vaslaw, oder ob die junge Frau nicht vielmehr den Superstar der damaligen Zeit begehrt hat, eher in dessen charismatische Bühnenpräsenz verliebt war als in den Mann selbst. Und so macht Neumeier auch folgerichtig den Pas de Deux, in dem Romola Vaslaw während der Schiffspassage erobert, zum Pas de Trois, indem er den beiden noch den Faun an die Seite stellt, eine von Nijinskys berühmtesten und besonders erotische Rolle, phänomenal dargestellt von Otto Bubenicek, der auch als „Goldener Sklave“, ebenfalls eine Glanzrolle Nijinskys, brilliert. Catherine Dumont verleiht Bronislava Nijinska, der Schwester Vaslaws, die Klarheit und Treue, die beide Geschwister zeitlebens verbunden hat. Sie war es, die Vaslaws Ideen und Konzepte später weiterentwickelt und in die Welt getragen hat. Silvia Azzoni ist eine schwebend-zarte, wunderbar ätherisch-feine und dennoch kraftvolle Tamara Karsavina, Nijinskys wichtigste Bühnenpartnerin. Thiago Bordin ist der Duft der Rose in „Spectre de la Rose“ – mit einer Eleganz und Präzision, dass man gar nicht mehr weiß, wohin man zuerst schauen soll.

„Nijinsky“ ist sicherlich eines von Neumeiers größten und bedeutendsten Werken, eine Liebeserklärung an den Mann, der dem modernen Tanz wie kein anderer den Weg gebahnt hat und dessen Kreativität heute noch staunen macht. Aber auch eine tragische Persönlichkeit: einer, der verzweifelt und verrückt geworden ist, wie Neumeier ausführte, „an der Trennung von seiner Hauptausdrucksform, dem Tanz, nachdem Diaghilew, sein Mentor, Liebhaber, Impresario und Agent, ihn aus den Ballets Russes ausgeschlossen hatte, an dem Tod seines ebenfalls psychisch kranken kleinen Bruders Stanislaw, an der Brutalität des ersten Weltkriegs und zu einem Teil wohl auch an der ihm nicht versteckt gebliebenen Untreue seiner Frau. John Neumeier hat sicher alles über Nijinsky in Erfahrung gebracht, was es im Lauf der vergangenen Jahrzehnte zu erfahren gab. Und doch bleibt Nijinsky in vielem ein Rätsel, ein Phänomen, dem man nie ganz auf den Grund kommen wird. Ganz ähnlich wie Neumeiers Stücke – die in ihrer Komplexität und Vieldeutigkeit sich nie auf den ersten Blick erschließen, sondern immer wieder neu erscheinen, so oft man sie auch sieht. „Nijinsky“ jedenfalls kann man gar nicht oft genug sehen.

Weitere Vorstellungen am 1. und 3. April sowie am 19. Mai (Jubiläumsvorstellung für die Ballets Russes) und 5. Juli (im Rahmen der Ballett-Tage).

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern