Crankos Erbe
Das Stuttgarter Ballett trauert um Dieter Graefe
Heute vor 60 Jahren wurde er nahe Vancouver geboren, und genau die Hälfte seines Lebens hat der Kanadier Reid Anderson bisher in Stuttgart verbracht – 17 Jahre als Tänzer des Stuttgarter Balletts, 13 Jahre als sein Direktor. Von der Royal Ballet School im aufregenden London kommt der 19 Jahre alte Tänzer im Januar 1969 ins verschneite Städtchen Stuttgart, wo John Cranko Verstärkung für seine Kompanie sucht - „Das war das Beste, was mir je im Leben passiert ist.“ Im März erlebt er die Uraufführung von „Der Widerspenstigen Zähmung“, im Juni geht die Truppe auf jene New-York-Tournee, von der sie als „Stuttgart Ballet Miracle“, als gefeierte Weltsensation nach Hause zurückkehrt: Von heute auf morgen ist der junge Kanadier ein Teil des Stuttgarter Ballettwunders. Es hat ihn seitdem nicht mehr losgelassen.
Der großgewachsene, etwas kantige Tänzer war nicht unbedingt eine Schönheit und nie einer der großen Ballettstars, aber wie so viele von Crankos Künstlern war er eine Persönlichkeit, und ein wunderbarer Partner in den Pas de deux. Cranko betraute ihn sofort mit größeren Rollen wie zum Beispiel dem Gremin in „Onegin“, unter Marcia Haydée stieg er später bis zum Ersten Solisten auf. Nach Crankos Tod kreierte Anderson auch Rollen für William Forsythe oder John Neumeier, unvergessen ist sein Vater Duval in der „Kameliendame“, den nach ihm nie wieder ein Tänzer so innerlich zerrissen, so unendlich traurig in all seiner Härte spielte.
Bei der Noverre-Gesellschaft hat er sich einige Male als Choreograf versucht, erfolgreich war er aber auf einem anderen Gebiet: noch während seiner Tänzerkarriere arbeitete Anderson als Ballettmeister und studierte die Cranko-Rollen ein, woraus sich alsbald ein neues Betätigungsfeld entwickelte, als er 1986 das Stuttgarter Ballett verließ. Sein Lebenspartner Dieter Gräfe, damals Verwaltungsdirektor der Kompanie, schied im Streit mit Haydée aus Stuttgart, mit ihm ging Anderson nach Kanada. Ein Jahr später war er dort bereits Ballettdirektor, zunächst beim kleineren Ballet British Columbia, dann für sieben Jahre beim National Ballet of Canada, wo man noch heute von seiner Ägide schwärmt.
1996 kehrte er als Direktor nach Stuttgart zurück, angelockt wie so viele Tanzkünstler des nordamerikanischen Kontinents vor allem von der finanziellen Sicherheit des deutschen Subventionstheaters, das künstlerische Arbeit ermöglicht, wo man in Kanada und den USA seine Zeit mit Fundraising verbringt. Anderson übernahm damals die Stuttgarter Kompanie in einer Phase des Abschwungs (in eine solche droht er eben gerade selbst hineinzurutschen): die langjährige Direktorin Haydée war müde, die Truppe stark überaltert, der neue Chef musste erst mal viele seiner ehemaligen Kollegen entlassen. Aber er brachte neue Stars wie Vladimir Malakhov und Robert Tewsley mit und zaubert seitdem reihenweise junge Talente aus dem Hut, vor allem um seine männlichen Tänzer beneidet ihn die halbe Welt.
Über 60 Uraufführungen hat Anderson seitdem in Auftrag gegeben, darunter zahlreiche Abendfüller, er setzt weiter auf das bewährte Stuttgarter Allerlei aus Klassik, Moderne und natürlich Cranko. Dessen oberster Sachwalter ist Anderson heute, er besetzt und coacht die Werke der Stuttgarter Legende weltweit (derzeit „Onegin“ an der Pariser Opéra) und sorgt gleichzeitig dafür, dass sie in Stuttgart immer noch am besten getanzt werden. Wie bei so vielen, die einst mit Cranko arbeiteten, spürt man auch bei Anderson noch heute die unglaubliche Faszination des Menschen und des Künstlers Cranko; lange Jahre hatten Anderson und Gräfe unter einem Dach mit dem Choreografen gewohnt. Vielleicht will der charmante Ballettintendant, der so originelle Reden hält und oft durch eine trockene, bei Künstlern nicht eben häufige Selbstironie überrascht, deshalb auch nach seiner Zeit als Direktor hier in Stuttgart bleiben; im Augenblick läuft sein Vertrag bis 2011 mit der Option auf Verlängerung. Die innige Verehrung seiner Tänzer für ihn dürfte heute Abend bei der großen Überraschungsgala in Stuttgart spürbar werden, an der seine Kompanie seit Wochen arbeitet.
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