Vom Sockel gestiegen
Die Gala des Mariinsky-Balletts
Die Geschichte vom jungen Schotten James, den ein kokettes Luftwesen ins Unglück stürzt, Auguste Bournonvilles berühmteste Choreografie „La Sylphide“, wird bei den deutschen Ballettkompanien fast immer in der etwas düsteren Version von Peter Schaufuss gezeigt. Genau wie bei „Giselle“ (und anders als bei den Petipa/Tschaikowsky-Balletten) unterscheiden sich auch hier die heutzutage gezeigten klassischen Fassungen nur wenig, weil das Ballett in Kopenhagen ohne große Unterbrechungen seit der Erstaufführung 1836 überliefert wurde. So kommt einem vieles in Elsa Marianne von Rosens Einrichtung beim Mariinsky-Ballett bekannt vor, angefangen bei den rührend altmodischen Theatertricks, mit denen die Sylphide durch die Lüfte schwebt, bis zu den Solovariationen der Hauptpersonen.
Zum ersten Mal zeigte die St. Petersburger Kompanie nun Bournonvilles Ballett bei ihrem alljährlichen Weihnachts-Gastspiel im Baden-Badener Festspielhaus, eine willkommene Ergänzung zu den üblichen „Nussknackern“ und „Schwanenseen“. Die Ausstattung ist sehr viel heller als in der Schaufuss-Version, die Kostüme sind bunter, so kommt der Gegensatz zwischen den steifen Röcken der schottischen Mädchen mit ihren arg bunten Karomustern und den weichen, langen Tutus der Sylphide noch besser heraus (es muss ein ganz besonderer Tüll sein, den die Russen verwenden, die Röcke fließen und schweben schöner als anderswo). Ansonsten hat man den Eindruck, als würde bei Schaufuss im ersten Akt mehr getanzt, in der russischen Fassung aus dem Jahr 1981 gibt es sehr viel Pantomime, und die wird, ganz entgegen Bournonvilles Intentionen, gnadenlos übertrieben. Vor allem Gurn, der zweite Bewerber um James‘ Braut, benimmt sich wie im Anfänger-Lehrgang für Pantomime, so überdeutlich wedelt Soslan Kulaev er mit den Armen, so übertrieben verzieht er das Gesicht. Auch die Hexe Madge gewinnt hier ein russisch-dramatisches Format, das kaum im Sinne der subtilen, ausgefeilten Bournonvilleschen Pantomimen-Tradition sein dürfte – mit ihrer riesigen angeklebten Hakennase sieht Elena Bazhenova wie eines von Kaschtschejs Ungeheuern aus dem „Feuervogel“ aus, ihre Gestik ist überlebensgroß, das Licht um ihren Zauberkessel leuchtet giftgrün wie in der Chemie-Fabrik. Glücklicherweise war es das aber mit der „Russifizierung“ des dänischen Choreografen, getanzt wurde nämlich durchaus exquisit, mit ein paar klitzekleinen Irritationen in den Linien des Sylphiden-Corps im zweiten Akt, die aber von den Irritationen der Blechbläser weit übertroffen wurden – zum ersten Mal stiegen Zweifel am jahrelang so zuverlässigen, hingebungsvollen Mariinsky-Orchester auf, das an diesem Abend von Valery Ovsianikov geleitet wurde.
Technisch perfekt, mit feiner Fußarbeit und sicheren Balancen tanzte Evgenya Obraztsova die Titelrolle, aber vielleicht ein wenig zu irdisch - es fehlte das Schweben, die Grazie, das federleichte Dahinhuschen des Luftwesens, all das, was an der Pariser Ur-Sylphide Marie Taglioni so gerühmt wurde. Das lag vor allem an Obraztsovas russisch-korrekten statt weichen Armen; die nachlassende Lyrik der Port de bras fiel bei diesem Mariinsky-Gastspiel durchgehend ins Auge. Bei aller Qualität der großen Kompanie scheint sich der berühmte, feine und klare St. Petersburger Stil in einige wenige Persönlichkeiten zurückzuziehen, zum Beispiel in Leonid Sarafanov, den James dieser „Sylphide“. Rein äußerlich ist der Mann im Kinderkörper ein eher ungewöhnlicher Tänzer mit schmalen Gliedern und großem Kopf; er setzte seine unglaublichen technischen Fähigkeiten hier intelligent und ganz im Sinne Bournonvilles ein, so fein waren die Battements und Entrechats, so sauber und klar bei aller Virtuosität sein Stil, so leicht sein Tanz und so natürlich seine Pantomimen. Wenn diese Leichtigkeit, diese feine Bournonville-Grazie noch ein wenig aufs zweifellos gute Corps der Sylphiden im zweiten Akt abgefärbt hätte, man wäre fast glücklich gewesen. So streute der Abend bei aller gewohnten (und erwarteten) Perfektion doch leise Zweifel am Unternehmen Mariinsky-Ballett unter der Obhut von Intendant Valery Gergiev und Ballettdirektor Yuri Fateyev.
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